Zwischen Klischee und Realität

Von Recklinghausen nach Schmalkalden: Zwei Jugendliche fahren zum ersten Mal in ihre ostdeutsche Partnerstadt und wollen sich ein eigenes Bild machen. Begegnungen zum Einheitsjubiläum

Text: Niklas Münch
Fotos: Luis Welz

Kurz bevor der Bus ankommt, soll Ben Hilker noch einen Fragebogen ausfüllen. Sein Bild von den alten Bundesländern ist gefragt. Er schreibt: „Sonne, lachende Menschen, Großstadt.“ Zu den neuen Bundesländern schreibt er: „Plattenbau, Dorf, Protest von AfD, Protest von Antifa.“

Ben ist 17 Jahre alt und in der Welt schon viel rumgekommen. Doch in Ostdeutschland war Ben noch nie. Dass es Vorurteile sind, die er in den Fragebogen einträgt, weiß Ben. Aber das sei eben das Bild vom Osten, das ihm von Erwachsenen und Medien vermittelt werde. Auch deshalb sitzt er in diesem Bus. Er will sich eine eigene Meinung bilden.

Nach dem Bürgerdialog in der Mehrzweckhalle Schmalkalden rücken Ben Hilker und andere Teilnehmende für ein Foto zusammen.
Ben Hilker neben anderen Teilnehmenden.

Ben gehört zu den rund 60 Menschen aus Recklinghausen, die an diesem Freitag im März mit zwei Reisebussen nach Schmalkalden fahren. Von West nach Ost. Eine Kommission der Bundesregierung hat sie eingeladen, im 30. Jahr der Einheit.

Recklinghausen in Nordrhein-Westfalen und Schmalkalden in Thüringen verbindet seit 1989 eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaft. Mit über 120.000 Einwohner:innen ist Recklinghausen eine typische Großstadt im dicht besiedelten Ruhrgebiet. Geprägt von Bergbau und Migration. In Schmalkalden leben sechsmal weniger Einwohner:innen, nur 20.000. Es liegt am Rand des Thüringer Waldes. Menschen mit Migrationsgeschichte gibt es dort wenig, dafür viel Grün.

Das gegenseitige Interesse der Bürger hat nachgelassen

Neben Ben sitzt sein Freund David Dinzolele. Er hat sich vorgenommen, so offen wie möglich in das Gespräch mit den Teilnehmenden aus Schmalkalden zu gehen. Der 19-Jährige wurde in Frankfurt (Oder) geboren und zog mit vier Jahren nach Nordrhein-Westfalen. Erinnern kann er sich nicht mehr an die Zeit in Brandenburg. Er kennt nur die Geschichten seiner Eltern, die Anfang der 90er-Jahre dorthin gezogen waren und als Schwarze Rassismus erfahren hatten. Im Kindergarten zum Beispiel sei sein großer Bruder vernachlässigt worden. Immer wenn seine Mutter ihn abholte, habe er alleine in einer Ecke gesessen. Irgendwann wurde es der Mutter zu viel und sie wechselte die Kindergartengruppe. David sagt, er hoffe, dass die Menschen genauso offen auf ihn zugehen wie er auf sie.

David Dinzolele beim Bürgerdialog in Schmalkalden
David Dinzolele hört aufmerksam zu.

David und Ben gehören zu den Jüngsten im Bus. Sie sind Mitglieder des Kinder- und Jugendparlaments Recklinghausen. Ansonsten sitzen da vor allem Menschen über 40, vom Verein für Orts- und Heimatkunde, von der Gilde der Stadtführerinnen und Stadtführer, vom Kirchenchor. In Schmalkalden gibt es auch ein Jugendparlament, David und Ben hoffen ein paar Mitglieder auf der morgigen Veranstaltung zu treffen.

Die Ost-West-Städtepartnerschaften sollten einmal in einem neuen Land Verbindungen schaffen, sie sollten Teil eines Aufbruchs sein. Recklinghausen und Schmalkalden starteten mit Enthusiasmus. Anfang der 90er halfen Bedienstete der Stadt Recklinghausen, eine kommunale Selbstverwaltung in Schmalkalden aufzubauen. Bei gegenseitigen Besuchen entstanden persönliche Kontakte. Seit einigen Jahren aber hat das Interesse nachgelassen. Vor allem den Jungen erscheinen Partnerstädte im Ausland attraktiver, erzählt Georg Möllers, der bis vor kurzem Sozialdezernent in Recklinghausen war und sich immer noch für intensive Beziehungen zu Schmalkalden einsetzt. Recklinghausen unterhält Partnerschaften zu Städten in Polen, Frankreich, England, den Niederlanden und sogar Israel. Auch David und Ben waren schon in mehreren dieser Städte. In Schmalkalden waren sie noch nie.

Wiedervereinigung, in verschiedenen Tempi

Der Tag der Veranstaltung. In der Schmalkaldener Mehrzweckhalle geben normalerweise Coverbands ihre Konzerte und Fußballspiele werden ausgetragen. Heute sind dort weiße Plastikstühle in kleinen Gruppen aufgestellt. An der Wand der Halle hängt eine elektronische Anzeigetafel, auf der bei Spielen die Punkte der Heim- und der Gastmannschaft gezählt werden. Heute ist die Anzeige ausgeschaltet.

Die Anzeigentafel in der Mehrzweckhalle Schmalkalden.
Ort des Treffens: die Mehrzweckhalle in Schmalkalden.

Ein Moderatorenpaar führt durch die Veranstaltung und bittet die Teilnehmenden sich aufzuteilen, in Ost und West, rechts die aus Schmalkalden und links die aus Recklinghausen. Dann soll jede Person aus Schmalkalden eine Person aus Recklinghausen aussuchen, um sich gegenseitig vorzustellen. Manche laufen gemütlich los, schauen suchend umher, einige stürzen sich regelrecht auf die Gäste aus Recklinghausen und schnappen sich energisch einen Partner oder eine Partnerin. Wiedervereinigung, in verschiedenen Tempi.

Die angekündigten Mitglieder des Jugendparlaments Schmalkalden sind nicht da. Es heißt, dass sie vielleicht am Abend nachkommen. Ben und David würden sich gerne auch mit Gleichaltrigen austauschen. Sie wollen wissen, wie es ist, in Thüringen aufzuwachsen. Fragen, was sie über das ganze Ost-West-Thema denken. Von den knapp 100 Teilnehmenden sind die meisten mindestens 20 Jahre älter als sie. Der einzige Jugendliche aus Schmalkalden, der dabei ist, zieht als Schülerreporter durch die Stadt.

Wir wollen kein Ost-West-Denken mehr

Der Altersunterschied wird für Ben und David in den anschließenden Gruppendiskussionen deutlich. Eigentlich sind sich alle Teilnehmenden einig: die Gesellschaft müsse das Ost-West-Thema hinter sich lassen. Doch wirklich damit abgeschlossen haben die wenigsten. Ein Vater aus Schmalkalden beklagt in seiner Gruppe, dass sein Sohn denke, in der DDR sei alles schlecht gewesen, weil das so in den Geschichtsbüchern von heute stehe. Ein anderer findet es schade, dass sein Sohn nicht gern sage, dass er aus dem Osten stammt.

Als ein Gast aus Recklinghausen das Ergebnis seiner Gruppe vorstellt, sagt er, dass der Westen zwar die Errungenschaften der letzten 30 Jahre im Osten anerkennen müsse. Doch auch der Westen erwarte Anerkennung, für das, was er für den Osten geleistet habe – und was zur Folge gehabt habe, dass der Westen selbst unter die Räder gekommen sei. „Im Westen sagt man manchmal, dass im Osten die Perserteppiche liegen und im Westen die Schlaglöcher“, sagt er.

Zwei Teilnehmer des Treffens im tiefen Gespräch.
Auf den Umhängern steht farblich unterlegt die Herkunft der Teilnehmenden: blau für Recklinghausen, gelb für Schmalkalden.

Nach Vorurteilen gefragt, erzählt Ben in seiner Gruppe, dass ihm Freunde vor der Reise nach Schmalkalden scherzhaft gesagt hätten, er solle doch den guten Westtabak mitnehmen, der sei noch Mangelware im Osten. Die Menschen aus Schmalkalden nehmen es mit Humor. Ben wird später sagen, dass er in den Gesprächen gemerkt habe, dass alle Vorurteile und Klischees Quatsch seien. Als er schließlich die Ergebnisse seiner Gruppe vorstellen soll, sagt er: „Wir wollen kein Ost-West-Denken mehr, wir sind ein Deutschland.“ Im Bus sei er bereits nach seinem Bild vom Osten und Westen gefragt worden, und er verstehe nicht, warum solche Fragen überhaupt noch gestellt würden. Allein dadurch werde doch nur die Teilung bestätigt. Immer wieder wird seine Rede durch Klatschen unterbrochen. Die Gruppe sollte darüber diskutieren, was Ost und West voneinander lernen könnten. „Es sollte doch heißen, was Menschen von Menschen lernen können!“ Einem Teilnehmer entfährt daraufhin ein lautes „Ja!“.

David hat nach den Gesprächen in seiner Gruppe den Eindruck, dass der eigentliche Unterschied nicht zwischen Recklinghausen und Schmalkalden besteht. Sondern zwischen Jung und Alt. Bei der Veranstaltung wird deutlich, dass für die Älteren beim Thema deutsche Einheit noch viel aufgearbeitet werden muss. Für David und Ben funktionieren starre Ost-West-Identitäten nicht mehr. Doch fragen, ob das auch für ihre Altersgenossen in Schmalkalden gilt, konnten sie heute nicht.

Rassismus ist ein Problem der Gesamgelleschaft

Am Nachmittag haben die Gäste aus Recklinghausen drei Aktivitäten zur Auswahl. David und Ben entscheiden sich für die Stadtführung. Es geht vorbei an renovierten Fachwerkhäusern. Nur vereinzelt sind Menschen in den Gassen unterwegs. Der Stadtführer, ein vor einigen Jahren zugezogener Westfale, erzählt ausgiebig über das mittelalterliche Schmalkalden. Die Lebensrealität während der DDR bleibt unerwähnt. In der Mohrengasse erklärt der Stadtführer, dass viele nicht wüssten, dass der Begriff ‚Mohr‘ vom heiligen Mauritius komme und daher völlig unproblematisch sei. „Außerdem ist es Quatsch, die Mohrengasse umzubenennen, dann müsste sie ja Gasse der maximal Pigmentierten mit Migrationshintergrund heißen“, schiebt er flachsend hinterher. Eine ältere Teilnehmerin aus Recklinghausen steigt ein: In einer Bäckerei hätten sie schon die Mohrenköpfe umbenannt. Unglauben liegt in ihrem Blick.

David lässt sich nichts anmerken. Später wird er sagen, dass ihn die Ausführungen des Stadtführers zur Mohrengasse geschockt hätten. Das belege ihm einmal mehr, dass Rassismus kein Problem des Ostens, sondern der Gesamtgesellschaft sei.

In der Altstadt von Schmalkalden stehen viele Fachwerkhäuser. Die Straßen sind wie ausgestorben.
Fachwerktraum Schmalkalden: An diesem Samstagnachmittag wirkt die Altstadt wie ausgestorben.

Am Abend fehlt von den Mitgliedern des Schmalkaldener Jugendparlaments immer noch jede Spur. Der Schmalkaldener Schülerreporter kann sich nicht erklären, warum das Interesse der Jungen am Besuch aus Recklinghausen so gering ist. Als das Abendprogramm bereits vorbei ist und alle Teilnehmenden bei Wein und Bier zusammenstehen, kommt doch noch eine große Gruppe von Jugendlichen zur Halle. Schaut kurz rein und zieht nach ein paar Minuten wieder ab.

Ben und David würden sich gerne mit Gleichaltrigen austauschen. Die meisten Teilnehmenden sind mindestens 20 Jahre älter als sie.

Das Motto passt nicht zur Veranstaltung

Ben und David sind enttäuscht. Sie finden, dass es gar nicht zum Motto der Veranstaltung „Deutschland ist eins: vieles” passe, dass so wenig junge Menschen dabei waren. Auch abgesehen vom Alter ist die Veranstaltung wenig divers: keine Menschen mit sichtbarer Behinderung, wenige Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte, und bei den Themen waren sich die meisten Menschen auch einig. Den Schülerreporterinnen und -reportern allerdings sind bei ihren Interviews in der Stadt andere Meinungen begegnet. Auch extreme Meinungen. Der Schülerreporter aus Schmalkalden sagt, dass es ihn überrasche, wie negativ die Menschen auf der Straße die Einheit sehen. Auch diese Standpunkte haben heute bei der Veranstaltung gefehlt.

Am Sonntag um 9 Uhr morgens, nach anderthalb Tagen, verlassen die zwei Busse Schmalkalden wieder in Richtung Recklinghausen. Wieder werden Fragebögen ausgeteilt. Die Teilnehmenden sollen beschreiben, wie sie das Treffen fanden. David notiert, er sei ohne Vorurteile nach Schmalkalden gekommen und daran habe sich nichts geändert. Und wieder werden sie gebeten, ein typisches Bild von Ost- und Westdeutschland zu zeichnen. Diesmal schreibt Ben auf die Frage nach den neuen Bundesländern: „lachende Menschen, Sonnenschein.“

Niklas Münch

Luis Welz

Der Journalist Niklas Münch und der Fotograf Luis Welz hatten die Befürchtung, dass der Bürgerdialog in Schmalkalden wegen des Coronavirus abgesagt werden könnte. Tatsächlich war der Termin der letzte der Programmreihe. Eine Veranstaltung, bei der die meisten Besuchenden über 50 sind, war eine Woche später nicht mehr denkbar.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert