Stolz & Vorurteil

Mecker-Ossis, Faulpelze, Nazis – Klischees über Ostdeutsche halten sich hartnäckig. Zwei Frauen aus dem Osten erzählen, was sie aus den Vorurteilen gemacht haben.

Frau Klein, 1990 waren Sie arbeitslos, heute sind Sie eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen aus Ostdeutschland. Wie kam es dazu?

1990 hatte ich zwei kleine Kinder und war im „Baby-Jahr“. Im Arbeitsamt saß ein Bayer und sagte: Zwei kleine Kinder? Da können Sie doch zu Hause bleiben! Mit dieser Denke wurde ich damals zum ersten Mal konfrontiert. Also habe ich mir selbst was gesucht.

Und dann?

Dann fing ich bei einem Frauenprojekt aus Hamburg an, das baute einen Zweig in Dresden auf. Deren Logik war ähnlich: Wenn die Frauen nach zehn Jahren Kinderzeit zurückkommen, machen sie bei uns Weiterbildungen. Da habe ich den Mädels erzählt: Das ist bei uns nicht so. Bei uns kommen die Frauen nach einem Jahr wieder, spätestens. Für den Job bin ich damals nach Hamburg gefahren und habe den ersten „modernen Computer“ meines Lebens gesehen. Das war Liebe auf den ersten Blick.

1994 gründeten Sie mit Ihrem Geschäftspartner eine eigene IT-Firma und wollten auch in Westdeutschland Geschäfte machen. War das als Ostdeutsche besonders schwer?

Ende 1992 hatten wir begonnen, sehr erfolgreich ein Bildungsinstitut mit den Schwerpunkten Management und IT zu betreiben. Und 1994 kam die Saxonia Systems dazu. Das hat uns damals keiner zugetraut. Allein die Ausschreibungen – daran konnten wir nie teilnehmen. Da stand immer: Referenzen. Wo nehmen Sie die her, wenn Sie ganz neu anfangen? Und dann als Frau in der Technik! Aus dem Osten! Das war ja dreifach behindert. Deswegen bin ich am Anfang wirklich überall hingefahren, um persönliche Kontakte aufzubauen. Messen in Dresden, Düsseldorf, Hamburg… Ich glaube, es hängt dabei viel von der Persönlichkeit ab – was man ausstrahlt und wie engagiert man ist. Heute muss ich nur irgendwo anrufen und dann ist das klar. 

Obwohl Ihr Unternehmen in Dresden sitzt, wohnten Sie lange in Frankfurt am Main und mittlerweile in Berlin. Warum?

Dresden ist wunderschön und meine Heimatstadt. Aber in Sachsen sitzen nicht unsere Kunden, die sind deutschlandweit – in den alten Bundesländern – zu Hause. Ein weiteres Problem kam mit der Flüchtlingskrise und der Gründung von Pegida dazu. Ich habe mich auch persönlich in diesem Bereich engagiert und mich gegen diese Gruppierung gestellt. Das haben die mich extrem spüren lassen. Wir haben uns trotzdem engagiert, unter anderem Deutschkurse für Flüchtlinge organisiert und finanziert. Als „Außenministerin“ unseres Unternehmens bin ich Teil von vielen großen Netzwerken, die aber leider nicht in Dresden zu Hause sind. Und Berlin ist eine gute Stadt dafür.

Hat es für Ihre Arbeit auch Vorteile gebracht, Ostdeutsche zu sein?

In der DDR habe ich natürlich vieles gelernt, das mir heute hilft: mit Mangel umzugehen, sich etwas einfallen zu lassen, zu improvisieren. Für uns Frauen gab es mehr Möglichkeiten, auch mehr Vorbilder. Wir waren nicht jeden Tag unglücklich, das wissen manche heute nicht mehr. Umgekehrt verdrängen andere das Schlechte. Dass wir ständig unter Beobachtung standen, immerzu bespitzelt wurden. Wir müssen das differenziert sehen. Ich glaube, die Aufarbeitung fängt gerade erst richtig an.

Das Interview führte Lina Verschwele

Viola Klein wurde 1958 in Freiberg geboren und wuchs in Dresden auf. In der DDR leitete sie eine Kita, nach der Wiedervereinigung wurde sie Unternehmerin im IT-Bereich. Mit ihrem Geschäftspartner gründete sie die Saxonia Systems, die sie 28 Jahre lang leitete und am 1. März 2020 verkaufte.


Frau Lietz, Sie arbeiten als Ehrenamtliche im Flüchtlingsheim in Wandlitz, betreuen dort eine Frau aus Somalia. Sehen Sie Parallelen zwischen sich selbst und dieser Frau?

Ja, definitiv. Diese Somalierin kam im Jahr 2015 ganz alleine nach Deutschland. Sie fühlt sich bis heute fremd hier. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe wird sie auf der Straße angestarrt und als Fremde wahrgenommen. Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen und zwölf Jahre nach der Wende in den Westen gezogen. Ich kenne das Gefühl, anders zu sein als die Anderen. Mich hat niemand wegen meines Aussehens angestarrt, aber alle wussten, dass ich aus dem Osten kam.

War dieses Gefühl des Fremdseins schon da, als Sie zum ersten Mal nach Westdeutschland gegangen sind?

Das war auf jeden Fall sehr seltsam. Ich bin eine Woche nach dem Mauerfall zum ersten Mal rüber nach Westberlin. Da sah ich diese Menschenmassen auf der Straße vor den Geschäften. Und mittendrin, mit geöffneter Ladeklappe, die Lastwagen der Firmen: Haribo, Jacobs und Sarrotti. Ein Mann hatte sich als Sarotti-Mohr verkleidet und schmiss Schokolade in die Menge. Und die ganzen Ossis schrien: „Hier, hier“. Mir war das total peinlich. An die Szene musste ich später zurückdenken, als im Jahr 2015 die vielen Flüchtlinge kamen und ich anfing, mich zu engagieren. Die Helfer haben ja ihre ganzen Klamotten angekarrt, komplette Keller ausgeräumt und an die Flüchtlinge verteilt. Plötzlich war ich selbst der Sarotti-Mann.

Sie meinen, Sie standen plötzlich auf der Seite der Gebenden?

Genau, das war ein komisches Gefühl. In der Flüchtlingshilfe wollten wir den Neuankömmlingen ja was Gutes tun und haben erwartet, dass die dankbar sind. Und wenn jemand mal gesagt hat „Nein danke“, dann waren wir ganz schockiert. Ich selbst dachte am Anfang auch so. Dann habe ich mich daran erinnert, dass ich damals keine Schokolade von dem Sarotti-Mann wollte. Obwohl der uns ja wahrscheinlich auch nur was Gutes tun wollte. 

Sie sind 2001 nach Westdeutschland gezogen, in ein Dorf in der Nähe von Hildesheim. Warum haben Sie sich dort fremd gefühlt?

Das war ein totaler Kulturschock! Ich bin wegen der Arbeit meines Mannes rüber, der hat eine Stelle bei einem Technikunternehmen bekommen, wirtschaftlich lief es gut. Aber wir waren die einzigen Ossis im Ort. Die Schwierigkeiten fingen schon mit der Sprache an: Die Hildesheimer bilden sich ja viel auf ihr perfektes Hochdeutsch ein, und dann kam ich mit meinem icke und ditte. Daran muss ich heute bei den Flüchtlingen manchmal denken – für die ist das natürlich noch schwieriger, wenn sie die Sprache überhaupt nicht sprechen. Und wir hatten ganz stark mit Vorurteilen zu kämpfen. Die Leute dachten zum Beispiel, dass mein Mann und ich bei der Stasi gewesen wären, weil wir zwei Autos hatten. So ähnlich ist das ja bei den Flüchtlingen auch, die bekommen ständig Vorurteile zu hören: Dass sie faul seien oder alle Terroristen sind.

Vor vier Jahren sind Sie zurück nach Ostdeutschland gezogen. Gibt es Menschen dort, die ein Problem damit haben, dass Sie sich für Flüchtlinge engagieren?

Klar gibt es die, die gibt’s im Westen und im Osten. Ich habe ein paar Bekannte, die sprechen nicht mehr mit mir, seit ich in der Flüchtlingshilfe bin.

Was stört Ihre Bekannten daran, dass Sie sich für Geflüchtete engagieren?

Ich glaube, bei ihnen spielt das Gefühl benachteiligt zu werden eine große Rolle. Wir Ossis mussten uns nach der Wende komplett neu anpassen. Dann hatten wir uns endlich arrangiert, und plötzlich kommen viele Flüchtlinge, denen der Staat hilft. Das ärgert manche. Es ist schade, dass sie nicht die Parallelen zwischen unseren Biografien sehen können.

Das Interview führte Lucia Heisterkamp

Kerstin Lietz wurde 1969 im sächsischen Wermsdorf geboren, wuchs in Oranienburg auf und arbeitete in der DDR als Friseurin. Im Jahr 2001 zog sie mit ihrem Mann nach Westdeutschland. Heute lebt sie in der Gemeinde Wandlitz in Brandenburg und engagiert sich dort in der Flüchtlingshilfe.