Wo ist mein Kind?

Heike Linke will Gewissheit, was mit ihrer Tochter geschehen ist. Sie ist eine der mutmaßlich Betroffenen von Zwangsadoptionen in der DDR, die drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung Aufklärung fordern. Eine Spurensuche.

Heike Linke am mutmaßlichen Grab ihrer Tochter © Marcel Eisenreich

Text: Maike Verlaat-Violand
Fotos: Marcel Eisenreich

Einen Meter breit, zwei Meter lang. Das Rechteck auf dem Zentralfriedhof Merseburg ist ganz unscheinbar. Doch durch die frisch umgegrabene Erde hebt es sich von den anderen Gräbern ab, die mit Tannenzweigen und Blumen geschmückt sind. Dieses Grab hat keinen Stein und keine Nummer. Dabei ist es keineswegs so, dass sich niemand mehr für diese zwei Quadratmeter Deutschland interessiert. Zwei Meter in der Tiefe, unter einer Schicht aus Humus, Mineralien, Luft und Wasser könnte sich, vielleicht, eine Antwort auf die Frage finden, die Heike Linke seit 35 Jahren nicht loslässt: Wo ist mein Kind?

Vor ein paar Monaten ließ Linke auf eigene Kosten die Urne einer Frau aus dem Grab nehmen. Ein Angehöriger der Toten hatte dem zugestimmt. Mit Urne wäre die Ruhezeit für das Grab noch nicht abgelaufen – doch ohne darf sie jetzt nach ihrem Säugling suchen. Leer ist das Grab dennoch nicht: Der Sarg eines Mannes liegt noch darin. Und auch ihr Kind? Laut Friedhofsbuch soll Linkes totgeborene Tochter hier bestattet sein. Heike Linke hat Zweifel. In wenigen Wochen, wenn der Frühling erwacht und der Boden nicht mehr gefroren ist, will sie die Ausgrabung veranlassen. Um endlich Gewissheit zu haben. Denn sie kommt von dem Gedanken nicht los, dass ihre Tochter womöglich lebt.

Heike Linke © Marcel Eisenreich
Heike Linke glaubt, dass ihr der Tod ihres Säuglings 1985 nur vorgetäuscht wurde.

Linke wohnt in einer Kleinstadt 25 Kilometer von Magdeburg entfernt. Dort sitzt sie jetzt an ihrem Wohnzimmertisch, umgeben von den Fotos ihrer drei Kinder und ihrer Enkel, die an den Wänden hängen. Linke will von der DDR erzählen, von dem Weg, der sie zu jener umgegrabenen Fläche auf dem Friedhof von Merseburg führte. Linke ist Erzieherin. Ihr Traumberuf, wie sie sagt. „Als Jugendliche habe ich mir schon die Kinderwagen im Dorf geschnappt und bin mit denen spazieren gegangen.“ Linke ist 54 Jahre alt, geboren in Merseburg bei Leipzig, wo sie, wie sie sagt, eine glückliche Kindheit verbrachte. Und das, obwohl ihr Vater, ein Dachdecker, an Lungenkrebs starb, als sie 15 Jahre alt war. Schon als Jugendliche habe sie ein gespaltenes Verhältnis zum DDR-Staat gehabt. Ihr Onkel habe im Gefängnis gesessen – wegen politischer Meinungsäußerung. Sie habe sich damals gefragt, wie ein Mensch wegen einer Meinung ins Gefängnis gesteckt werden könne und das Thema auch in der Schule angesprochen. Deswegen habe sie zum Direktor gemusst.

Mit 16 zieht sie von zu Hause aus, um ihre Ausbildung als Erzieherin zu beginnen, erzählt sie weiter. Drei Jahre später nahm sie eine Stelle in einem Kindergarten in der Nähe von Merseburg an. Ihre Personalakte sei schnell dick und dicker geworden. Denn im Kindergarten habe sie sich immer mal wieder Fauxpas erlaubt: das Honeckerbild an der Wand umgedreht, die Spielzeugarmeen versteckt, damit die Kinder nicht damit spielen. Das sei nicht gut angekommen, aber sie habe weiterarbeiten dürfen.

Linke steht auf und holt ihr Handy. Darauf hat sie eines der wenigen Fotos aus dieser Zeit gespeichert. Es zeigt eine hübsche 17-Jährige mit schulterlangem, dunkelblondem Haar, die schüchtern unter ihrem Pony hervorblickt. Samstagabends war Dorfdisko, erzählt Linke, die ihr Haar heute kurz und hellblond trägt. Dort habe sie ihn kennengelernt: einen jungen Mann in ihrem Alter, ein Sportschütze. Nach nur wenigen Treffen mit ihm sei sie schwanger geworden. Aber dann habe er nichts mehr von ihr wissen wollen. 

Linke sitzt im Auto auf dem Weg nach Leipzig. Sie will den Ort zeigen, wo alles seinen Ausgangspunkt hatte. Als sie sich dem ehemaligen Standort der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) nähert, sagt sie: „Mein Herz pocht so, das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich war seitdem nie wieder da.“

Heike Linke mit einem Foto von sich als 17-Jährige © Marcel Eisenreich
Ein Foto von ihr als 17-Jährige. Zwei Jahre später wird sie das erste Mal schwanger.
Verhängnisvolle Begegnungen

Mit ‚seitdem‘ meint sie den Winter 1984. Linke erzählt, wie sie, im vierten Monat schwanger, nach Leipzig zu einem Internat der DHfK gefahren sei. Welches genau es war, weiß sie heute nicht mehr. Woran sie sich erinnert: Es war kalt und dunkel, als sie ankam. Sie habe dann den jungen Sportschützen zur Rede stellen und Unterhalt für das Kind einfordern wollen. Nachdem sie dem Pförtner gesagt hatte, warum sie da sei, habe dieser sie in eine der Baracken geführt und sie warten lassen. Daraufhin sei ein älterer Mann mit schwarzen Haaren erschienen. Er habe ihren Ausweis genommen und sei nach einer halben Stunde wiedergekommen mit den Worten: „Wir kümmern uns um alles.“ „Diesen Satz werde ich nie wieder vergessen“, sagt Linke. Als sie die Baracke verließ, habe da plötzlich der Vater ihres ungeborenen Kindes gestanden. Was sie sich denn einbilde, hierher zu kommen, und ob sie seine Karriere zerstören wolle, habe er sie gefragt. Danach habe sie ihn nie wiedergesehen. Und dann sagt Linke noch etwas, das einem erst einmal unglaublich vorkommt: Der Name des Sportschützen, der sei irgendwann aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Teil der Traumabewältigung, so erkläre sich das ihre Therapeutin. 

Aber es gibt noch zwei weitere Sätze, die Linke nicht vergessen hat: „Ihr Kind hat einen Wasserkopf.“ Und: „Das sieht man erst ab der 22. Woche.“ Ausgesprochen habe das der Arzt, der bei ihr im Krankenhaus in Merseburg die Ultraschalluntersuchungen durchführte. Da sei Linke bereits in der 25. Schwangerschaftswoche gewesen. In der 33. Woche sei sie dann nach Halle ins St. Barbara-Krankenhaus überwiesen worden, wo die Geburt eingeleitet werden sollte. Statt weniger Tage, wie für eine Geburtseinleitung üblich, habe Linke dann aber drei Wochen dort verbracht. Ihre Erinnerungen an diese drei Wochen sind bruchstückhaft. „Ich habe nur geschlafen“, sagt Linke. Man habe ihr wohl viele Medikamente gegeben. Ein junger Arzt habe ihr dann in der 36. Woche gesagt, dass das Kind in ihrem Bauch tot sei. Sie müsse nun nach Merseburg zurück, denn dies sei ein christliches Krankenhaus. Totgeburten bekomme man hier nicht. So erzählt sie es heute. Dem Krankenhaus in Halle ist zum jetzigen Zeitpunkt keine Regelung bekannt, dass Frauen in der DDR wegen bevorstehender Totgeburten an andere, nicht-christliche Häuser überwiesen worden wären. Man habe lediglich keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt.

Tritte im Bauch

Damals, in der Klinik in Halle, kann Linke nicht glauben, dass ihr Kind tot ist. Sie habe die Tritte im Bauch gespürt – auch nachdem der Arzt das Kind für tot erklärt hatte. 

Linke erzählt, wie sie über die Jahre so viele Unterlagen wie möglich gesammelt hat. Heute hilft sie auch anderen dabei.

Linke hält jetzt vor dem Carl-von-Basedow-Klinikum in Merseburg, knapp 30 Kilometer von Leipzig entfernt. Säulenkrankenhaus wird es auch genannt wegen der vier massiven Pfeiler am Eingang. „Der Ort jagt mir keine Angst mehr ein“, sagt Linke. „Den Teil habe ich aufgearbeitet.“ Sie steigt aus dem Auto aus, geht an den Säulen vorbei durch die Eingangstür und verweilt einen Moment im Flur. Dreizehn mit orangefarbenem Linoleum bedeckte Stufen geht es drinnen noch einmal hoch bis ins Foyer. „Ich kann mich noch erinnern, wie ich mich auf der Treppe mit dem Krankentransportfahrer, der meine Tasche tragen wollte, gestritten habe“, sagt sie. Sie sei gereizt gewesen wegen der kaltherzigen und kurz angebundenen Aussagen der Ärzte. Der Fahrer habe sie beruhigen wollen. Linke ist sich sicher, dass sie am 23. Mai 1985, einen Tag vor der Entbindung, nach Merseburg gebracht wurde. Aber in ihrer Krankenakte heißt es, sie sei schon zwei Tage früher eingeliefert worden. Es ist eine von vielen Unstimmigkeiten, die Linke misstrauisch machen.

Linke sagt: Bei ihrer Ankunft in Merseburg habe sie einen Blasensprung gehabt. Am nächsten Morgen habe man sie in den Kreißsaal gebracht. Ihr Kind sei unter Vollnarkose auf natürlichem Weg geholt worden – trotz des angeblichen Wasserkopfs, trotz der Beckenendlage, von der die Rede gewesen sei. Als sie wieder wach wurde, sei nur eine Krankenschwester bei ihr gewesen. Sie habe ihr gesagt, das Kind sei wie erwartet tot gewesen. Linke habe es sehen wollen, aber die Schwester habe es nicht erlaubt. Als Linke weiter fragt, habe die Schwester ihr geraten, jetzt still zu sein.

Wieder draußen, vor dem Krankenhaus, zeigt Linke auf ein Dachfenster. Dort sei sie nach der Geburt in ein Einzelzimmer gebracht worden. Sie erinnert sich, dass sie aus diesem Fenster auf die Straßenbahn geblickt habe. Nach drei Tagen, am 27. Mai 1985, wurde sie entlassen. So steht es auch in der Krankenakte. Ein paar Wochen später habe sie eine Postkarte vom Bestattungsinstitut in Merseburg erhalten, erzählt sie heute. Sie könne die Sterbeurkunde für ihr Kind vom Bestatter abholen. Linke fand das seltsam: Stellt nicht das Standesamt Sterbeurkunden aus? Sie sei zum Bestattungsinstitut gefahren und habe gefragt, wo der Säugling begraben wurde. Ihr sei gesagt worden, das habe sie nicht zu interessieren. Auf dem Weg zurück habe sie nur geweint. Die nächsten Tage sei sie oft auf einem Friedhof in Merseburg gewesen, um zu schauen, ob es frische Gräber gibt.

Erst 32 Jahre später erfährt Linke, dass sie auf dem falschen Friedhof geschaut hat. Der Zentralfriedhof Merseburg ist es, der ihr auf ihre Anfrage bei der zentralen Friedhofsverwaltung der Stadt einen Auszug aus dem Friedhofsbuch schickt. In dem Dokument steht, dass ihr Kind dort begraben liegt.

Ihr Haus in der Nähe von Magdeburg. Am Wohnzimmertisch vergräbt Linke für einen Moment den Kopf in die Hände. Nach dem unangenehmen Besuch beim Bestattungsinstitut 1985 habe sie die Sache tatsächlich ruhen lassen. „Ich habe mir gedacht, entweder du zerbrichst daran, oder du hörst jetzt auf “, sagt Linke. Und eine konkrete Vermutung, was bei der Geburt geschehen war, habe sie zu dem Zeitpunkt ja auch gar nicht gehabt, nur so ein unbestimmtes Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Kurze Zeit nach der angeblichen Totgeburt lernte sie ihren ersten Ehemann kennen. Nur ein Jahr später brachte sie einen Jungen zur Welt – im selben Krankenhaus, weil es für ihren Bezirk zuständig war. „Ich habe nach der Geburt zu der Schwester gesagt: Tragen Sie das Kind nicht raus. Ich möchte es schreien hören.“

„Ich habe nach der Geburt zu der Schwester gesagt: Tragen Sie das Kind nicht raus. Ich möchte es schreien hören.“

HEIKE LINKE
Das Leben geht weiter
Heike Linkes Recherche © Marcel Eisenreich
In diesem Ordner befindet sich Linkes gesamte Recherche.

Linke wird noch einmal Mutter – und hat viel zu tun. Jahrzehntelang verdrängt sie ihre Zweifel. Erst 2005, da sind ihre zwei Kinder bereits groß, fängt sie an zu recherchieren. Sie bittet ihre Frauenärztin, den Pathologiebericht des toten Säuglings anzufordern. Die Ärztin, sagt Linke, habe ihr den Bericht vorgelesen, es sei alles in Ordnung. Erst später wird sich herausstellen, so erzählt es Linke, dass es nicht das richtige Dokument war. Wieder sind andere Dinge wichtiger. Linke heiratet ihren zweiten Mann, bekommt ein weiteres Kind. „2016 habe ich mir dann gesagt: Jetzt oder nie“, sagt Linke. Im Internet habe sie recherchiert, wie man am besten Akten anfordert. So sei sie auf die Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR gestoßen, die ihr geholfen habe, so viele Unterlagen wie möglich zu sammeln.

Vier Jahre lang hat Heike Linke Unterlagen zusammengetragen, jedes Blatt in Klarsichtfolie gehüllt und es in einem dicken Ordner abgeheftet. Blättert man sich durch den Ordner, stößt man auf viele Ungereimtheiten. In der Zusammenfassung von Linkes Krankenakte steht, Linke sei am 21.05.1985 wegen eines „Infans mortuus“, wegen eines toten Fötus, zur Geburtseinleitung stationär aufgenommen worden. Sonografisch sei schon vor der Aufnahme ein „Hydrocephalus internus“ festgestellt worden, ein Wasserkopf. Im selben Dokument ist der Kopfumfang allerdings mit 35 cm angegeben – ein sehr durchschnittlicher Wert.

Noch etwas. Die Dokumentation der Behandlungsschritte hört am 24.05.85 um 10 Uhr auf. Keine weiteren Dokumentationsschritte bis zur Geburt um 10:45 Uhr. Für Linke ist das verdächtig. Pathologiebericht und Todesschein fehlen in der Akte. Das, was ihr 2005 ihre Frauenärztin vorgelesen hat, sei nicht der Pathologiebericht, sondern die Zusammenfassung der Krankenakte gewesen, sagt Linke. Eine weitere Akte zu den drei Wochen, die sie nach eigener Aussage vor der Entbindung in Halle verbracht hat, gibt es nicht. Linke blättert weiter zu einer Seite, auf der die Abkürzung „KHT“ für Kindsherztöne steht, daneben sind Fragezeichen eingetragen. „Wenn das Kind doch tot ist, dann hätte da ‚keine Herztöne‘ stehen müssen“, sagt Linke. Diese Ungereimtheiten sind es, die Linke hoffen lassen, dass ihr Kind noch lebt. Auch der Arzt, der von 2002 bis 2019 Chef der Geburtenstation in Merseburg war, habe sich das nicht erklären können, als sie ihn vor einem Jahr damit konfrontiert habe, sagt sie. Er habe ihr dann geraten, mit der Akte zum Staatsanwalt zu gehen. Inzwischen ist der Arzt im Ruhestand. Für eine Stellungnahme war er nicht zu erreichen.

„Wenn das Kind doch tot ist, dann hätte da ‚keine Herztöne‘ stehen müssen.“

HEIKE LINKE
Von Akten und Auffälligkeiten

Aber Linkes Recherche hört nicht bei der Krankenakte auf. Auf dem Bestattungsschein steht, dass er am 31.05. ausgestellt wurde. Oben links steht der Vermerk „z. FR.“ Zur Freigabe soll das bedeuten – so habe das Standesamt Merseburg es Linke erklärt: Ein Tod müsse mit einer Sterbeurkunde und einem Eintrag im Sterberegister beurkundet werden, bevor der Bestattungsschein ausgefüllt werden darf. Aber das ist im Fall von Linkes Kind nicht geschehen: Sterbeurkunde und Überführung des Säuglings zum Friedhof sind erst Anfang Juni vermerkt. Und da ist noch mehr: Im Bericht der zentralen Kommission zur Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit, die in der DDR dem Ministerium für Gesundheitswesen unterstellt war, steht, das Kind habe sich in Schädellage befunden – während in der Krankenakte von einer Beckenendlage die Rede ist.

All diese Unstimmigkeiten sind keine Beweise. Aber seitdem Linke die Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR gefunden hat, weiß sie, dass sie mit ihren Zweifeln nicht alleine ist. Der Verein hat mehr als 2.500 Mitglieder. Davon glauben etwa 300, dass sich in ihrer Familie ein vorgetäuschter Säuglings- oder Kindstod abgespielt hat. Oft sind nach Aussagen der Betroffenen Angaben in den Unterlagen ungenau, oder wichtige Dokumente fehlen. Linke ist mittlerweile Vizevorsitzende der Interessengemeinschaft. Ihre Vermutung: Möglicherweise haben einige Kinder eine neue Identität bekommen und sind gleich aus dem Krankenhaus heraus adoptiert und abgeholt worden. Auch der Vorstandsvorsitzende der Interessengemeinschaft, Andreas Laake, spricht von „Gefälligkeitskindern“, die rechtswidrig vermittelt worden seien. Möglicherweise direkt an Stasi-Offiziere, die die Kinder nach den Vorstellungen der DDR erziehen sollten. Menschen, die glauben, als Kind adoptiert worden zu sein, obwohl man ihnen sagte, sie seien bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen, wenden sich unter anderem an die Interessengemeinschaft. Manche wissen auch um ihre Adoption, nicht aber, wer ihre leiblichen Eltern sind. Einige von ihnen seien tatsächlich in Familien von Stasi-Mitarbeitern aufgewachsen, sagt Linke. 

Heike Linke am mutmaßlichen Grab ihrer Tochter © Marcel Eisenreich
Auf dem Friedhof kommen die Gefühle der jahrzehntelangen Ungewissheit wieder hoch.

Zwangsadoptionen in der DDR sind bislang nur wenig erforscht. Die Aufarbeitung ist aus Datenschutzgründen schwierig. Zuständig dafür sind die Landesbeauftragten der fünf ostdeutschen Bundesländer und Berlin. Die Konferenz der Landesbeauftragten hat mitgeteilt, dass es zwar belegte Einzelfälle gebe, aber „noch keine wissenschaftlich seriösen Belege für systematische, flächendeckende und in hoher Zahl vorgenommene Zwangsadoptionen in der DDR“. Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod – wie es Heike Linke in ihrem Fall für möglich hält – sind bisher nicht ausreichend belegt.

Doch die Interessengemeinschaft hat inzwischen einiges erreicht. Nachdem ihre Mitglieder eine Petition beim Bundestag eingereicht haben, soll noch in diesem Jahr eine zentrale Vermittlungsstelle eingerichtet werden, an die sich Eltern und Kinder, die mutmaßlich betroffen sind, wenden können. Auch soll es für beide Seiten eine DNA-Datenbank geben, wo sie sich auf freiwilliger Basis registrieren lassen können. Eine Studie zu politisch motivierten Zwangsadoptionen ist in Arbeit. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung scheint etwas ins Rollen zu kommen.

Linke war inzwischen oft bei dem Grab, in dem ihr Kind liegen soll. Aber nun ist es das erste Mal seit der Urnenentnahme, dass sie hier auf dem Zentralfriedhof Merseburg ist. Sollten bei der anstehenden Ausgrabung Knochenreste eines Säuglings gefunden werden, dann wird sie diese zusammen mit ihrer DNA an ein Labor senden und auswerten lassen. Sollte sich bestätigen, dass ihre Tochter tot ist, dann will sie sich ein Stück Tuch, in das der Säugling vermutlich eingewickelt wurde, aus dem Grab mitnehmen. Die Friedhofsverwaltung habe ihr das gestattet. Sie will sich im Garten eine Stelle einrichten, damit sie sich dort verabschieden kann. Auch wenn sie nicht daran glaube: „Ich wünsche mir, sie liegt drin“, sagt Linke. Denn dann könne sie endlich damit abschließen.

Noch ein paar Schritte, dann ist Linke an dem frisch umgegrabenen Grab angekommen. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so nahe geht“, sagt sie. „Die wissen nicht, was sie uns angetan haben damals.“

Maike Verlaat-Violand © Tobias Hausdorf

Maike Verlaat-Violand

Marcel Eisenreich

Maike Verlaat-Violand & Marcel Eisenreich hatten Glück: Ihre Protagonistin Heike Linke war so freundlich, die beiden mit dem Auto überall hinzufahren – zu ihr nach Hause, nach Merseburg, nach Leipzig – und zwischendurch zu McDonalds, als die beiden vor Erschöpfung Pommes brauchten.