Es ist an der Zeit!

Warum verschweigen so viele erfolgreiche ostdeutsche Frauen heute noch ihre Herkunft?

Text: Anna Bayer
Foto: privat

Es ist ein Detail, das die Sendung Wetten, dass…? im Januar vor elf Jahren zu einem der erfolgreichsten Momente für die Modeschöpferin Gesine Wessels machte. Sie selbst  war nicht anwesend, doch ein prominenter Gast trug ihr Designerstück: Die Schwimmerin Britta Steffen ließ sich in einem schwarzen Neckholderkleid mit buntem Blumendruck neben Hollywoodschauspieler Tom Cruise auf der Couch bei Thomas Gottschalk nieder. Die deutsche Presse verglich Steffen am nächsten Tag mit der Schauspielerin Charlize Theron.

Britta Steffens Auftritt bei der Fernsehshow scheint wie ein stiller Triumph für Gesine Wessels. Sie ist eine der wenigen Modedesignerinnen aus der ehemaligen DDR, die heute erfolgreich ist – und die überhaupt noch diesen Beruf ausübt. Doch über ihre Herkunft spricht sie kaum.

Das ist erstaunlich, weil ihre Mode offensichtlich auf prominentem Parkett mithalten kann. Sie hat sich damals Fähigkeiten angeeignet, die heute wieder wichtig sind: Viele Menschen setzen aus Umweltbewusstsein auf nachhaltige Kleidung. Zu DDR-Zeiten gehörte es zu Gesine Wessels täglichen Aufgaben, Lösungen dafür zu finden. Die Herausforderung dabei war, mit den begrenzten Möglichkeiten der DDR-Wirtschaft zu arbeiten. So entwarf sie beispielsweise Regenmäntel aus einem Stoff, den sie aus alten Filmresten hergestellt hatte. Diese Erfindung hat sie nie besonders hervorgehoben.

So wie Gesine Wessels halten es auch viele andere erfolgreiche Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind. Im vergangenen Jahr saßen nur vier Ostdeutsche in den Vorständen der 30 Dax-Konzerne, drei davon waren Frauen. Hauke Stars aus Merseburg, die bei der Deutschen Börse Vorstand ist, und Kathrin Menges, die bis 2019 bei Henkel in der Chefetage war und in Pritzwalk geboren ist, haben es immer abgelehnt, über ihre ostdeutsche Herkunft zu sprechen. Porträts mussten Journalisten stets aus spärlichem Archivmaterial zusammenschreiben. Warum verkaufen viele Frauen ihre ostdeutsche Herkunft so selten als einen unique selling point?

Gesine Wessels sagt, als die Mauer fiel, sei sie zunächst euphorisch gewesen. Sie habe gedacht, die Welt stünde ihr offen. Doch dann habe sie realisiert: „Die Wende schien zunächst das Ende meiner Karriere.“ Sie fand keine Arbeit, obwohl sie die Uni mit Auszeichnung abgeschlossen und unzählige Kollektionen entworfen hatte. Mit Gelegenheitsjobs hielt sie sich zunächst über Wasser, bis sie sich nach langem Überlegen dazu entschied, ihr eigenes Label zu gründen.

Vielleicht liegt die Zurückhaltung vieler ostdeutscher Frauen also genau darin, dass für sie der Anfang im wiedervereinigten Deutschland nicht einfach war. Studien zufolge fühlen sich Ost- deutsche auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ähnlich benachteiligt wie Migranten. Eine Untersuchung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass 35 Prozent der Ostdeutschen sich als Bürger zweiter Klasse betrachten, so wie 34 Prozent der Muslime in Deutschland.

Heute hat Gesine Wessels ihr Atelier in Tutzing, am mondänen Starnberger See. Oft kommen Leute  zu ihr, die möchten, dass sie ein Dirndl entwirft. Für sie sei das kein Problem.

„Meine Ausbildung in der DDR hat mich hervorragend auf alles vorbereitet. Sie war sehr universell“, betont sie. Wessels Mode wird sogar im Bundestag getragen. Seit zehn Jahren kleidet sie die CDU-Politikerin Marie-Luise Dött ein, deren Garderobe fast ausschließlich aus Wessels Designerstücken besteht. Doch obwohl die Modeschöpferin viel erreicht hat, bekommt man das Gefühlt, dass sie ungern über ihre Vergangenheit spricht. Die meisten ihrer Kunden wissen nicht, dass sie ihr Handwerk in der DDR erlernt hat. Sie sagt: „Meine Herkunft interessiert kein Schwein.“

Dass ihre Herkunft wirklich kein Schwein interessiert, ist schwer zu glauben. Junge Ostdeutsche sind momentan dabei, sich ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Dafür brauchen sie Erfolgsgeschichten wie die von Gesine Wessels, um mehr über ihre Sozialisation zu erfahren, aber auch um Mut zu fassen. Vielleicht ist es für erfolgreiche ostdeutsche Frauen an der Zeit, öfter über ihren biografischen Hintergrund zu sprechen. Denn je häufiger man sie hört, desto stärker dringen sie ins öffentliche Bewusstsein.