Immer wieder sonntags…

Die Einwohner des kleinen Dorfs Mödlareuth waren für 23 Jahre durch die Mauer voneinander getrennt. Auch heute gehört der Ort noch zu zwei verschiedenen Bundesländern. Wie lebte und lebt es sich mit dieser Spaltung?

Text: Cornelius Pape
Fotos: Magdalena Luise Mielke

Hier, wo sich ein kleiner Bach geradezu romantisch durch die saisonbedingt karge Landschaft schlängelt, steht es – das steinerne Relikt eines untergegangenen Staates. Die weiß getünchte ehemalige Grenzmauer wirkt mitten auf der grünen Wiese wie eine hässliche, schlecht verheilte Narbe. Sie wirkt deplatziert und monströs, in einem Dorf – das normaler nicht sein könnte: 48 Einwohner, ein Bürgerhaus, ein Gasthof, der wochentags nur nach Anmeldung öffnet.

An diesem dunklen und regnerischen Frühlingstag sind die kleinen Straßen leer. Unterbrochen wird die dörfliche Ruhe nur durch einige gackernde Hühner, die in einem Vorgarten wild umherlaufen. Ein Schäferhund liegt stoisch vor einer Garage, trotzt dem Regen und beobachtet die Tristesse. Gelegentlich rauschen Autos an den Häusern vorbei. Eines hält an, in der Dorfmitte vor dem Schlagbaum, der einst die Grenze zwischen Ost und West markierte. Zwei Männer steigen aus. Der eine platziert sich vor der rot-weißen Schranke, macht einen Hampelmann und lässt sich von dem anderen ablichten. Danach fahren sie weiter.

Das Gewässer an der Mauer, der Tannbach, fließt durch das Dorf Mödlareuth – und teilt es nicht nur natürlich, sondern auch administrativ. Der eine Teil gehört zu Bayern, der andere zu Thüringen. Beide Dorfteile haben deshalb unterschiedliche Postleitzahlen, Vorwahlnummern, Autokennzeichen – und ihren jeweils eigenen Bürgermeister. Ein Kuriosum, das das Zusammenleben erschwert? Die Dorfbewohnerin Karin Mergner bestreitet das: „Wenn der eine Bürgermeister nicht will, dann gehen wir halt zum anderen“, sagt sie in fränkischem Dialekt und lacht.

Mit einem kleinen Sprung über den Tannbach wäre man früher in einem anderen Staat gelandet.
Grenzübergreifendes Lästern

Die 73-Jährige trägt ihre ergrauten Haare kurz. Sie sitzt an dem hölzernen Esstisch ihres alten Bauernhauses und überblickt schon seit Langem das Dorfleben, auch wenn sie hier nicht aufgewachsen ist. In den 60er-Jahren hat sie einen Mödlareuther Landwirt geheiratet, aus dem Westteil. Seitdem lebt sie hier mit ihrer Familie. Ihr Sohn hat inzwischen seinen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb, allerdings auf thüringischer Seite.

Die immer noch klar sichtbaren Grenzanlagen spielen für die Einwohner keine Rolle, sagt Mergner. Schon damals, in der Zeit des Kalten Krieges, habe man einfach damit gelebt. Der Dorfklatsch mit dem Osten habe auch über die Mauer hinweg wunderbar funktioniert. Durch Rentner aus der DDR, die ab und an in den Westen reisen durften, konnte man immer wieder Neuigkeiten austauschen, sagt sie. Grenzübergreifendes Lästern, wenn mal wieder jemand fremdgegangen ist.

Von Mergners Haus sind es nur wenige Meter bis zum Deutsch-Deutschen Museum im bayerischen Teil des Ortes. Gegründet im September 1990, gehören heute neben den übrig gebliebenen Grenzanlagen auch eine Ausstellung, ein Archiv und eine Bibliothek dazu. Es gibt in Mödlareuth niemanden, der besser über die Geschichte des Dorfes Bescheid weiß als der Historiker und Museumsleiter Robert Lebegern. Er selbst kommt nicht aus dem Dorf, redet aber gern über sein Mödlareuth, häufig mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

Museumsdirektor Robert Lebegern erklärt, wie mitten in Mödlareuth der Eiserne Vorhang fiel.
Schon seit langem geteilt

Die Verwaltungsgrenzen entlang des Tannbachs sind schon seit Jahrhunderten belegt, sagt Lebegern. Grenzsteine, die im Jahr 1810 die Zugehörigkeit des westlichen Dorfteils zum Fürstentum Bayern und die des östlichen zum Fürstentum Reuß markierten, meißelten die Teilung in Stein. Zunächst hatte dies jedoch keine großen Auswirkungen auf den Alltag, wie der Museumsdirektor erzählt. Man ging gemeinsam in die Kirche im bayerischen Nachbarort Töpen, das Wirtshaus und die Schule waren hingegen auf thüringischer Seite.

Eine Zäsur stellte dann die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten und dem allmählichen Ausbau der Grenzanlagen fiel mitten in Mödlareuth der Eiserne Vorhang. Die Einwohner arrangierten sich mit der neuen Situation, ohne den Zustand als endgültig zu akzeptieren. Im Alltag blieb die Grenze für die Ortskundigen und diejenigen, die Kontakte zu DDR-Grenzpolizisten hatten, zumindest in den 40er- und 50er-Jahren durchlässig: „Es war auch für die thüringischen Mödlareuther möglich, mal illegal durch den Stacheldrahtzaun zu schlüpfen und auf der bayerischen Seite etwas zu besorgen”, sagt Lebegern.

Ihm sei auch ein Fall bekannt, bei dem zwei DDR-Grenzpolizisten abends ihre Kleidung wechselten, in Zivil im Westen ins Kino gingen und dann nachts wieder in den Osten zurückkehrten. Abgesehen von einer geglückten Flucht im Jahr 1973 gab es laut Lebegern dann aber ab den 60er-Jahren keine illegalen Grenzübertritte mehr. Vor allem auch, weil die Mauer, die Mödlareuth den Spitznamen „Klein-Berlin“ bescherte, 1966 fertiggestellt wurde.

Zu klein zum Hochklettern

Der Museumsdirektor geht an dem rekonstruierten Kontrollhäuschen der DDR-Grenzpolizei vorbei und macht an einem Stacheldrahtzaun halt, der dort steht, wo der ehemalige Grenzbereich begann. Lebegern umfasst einen der Drähte mit seiner Hand und sagt: „Da war mal Strom drauf. Allerdings nicht, um Menschen zu verletzen, sondern nur schwacher Strom. Durch Berührungen wurde ein Signal ausgelöst, das die Grenzer registrieren konnten.”

Hinter dem Zaun beginnt nach wenigen Schritten der sechs Meter breite Kontrollstreifen, fein geharkt, um Spuren erkennen zu können. Dahinter wiederum befindet sich ein Sperrgraben mit Betonblöcken, der verhindern sollte, dass Fahrzeuge die Grenze durchbrechen. Robert Lebegern versucht, seine Finger in die Lücken eines Zaunes zu schieben, der an den Graben anschließt: „Die Lücken sind zu klein, um sich festhalten und hochklettern zu können”, sagt er.

Vor den Grenzanlagen und dem bedrohlich über dem Dorf thronenden Beobachtungsturm hatte Karin Mergner keine Angst, sagt sie heute. Im Gegenteil: „Man musste nie was absperren, weil man ja wusste, dass man eh die ganze Zeit beobachtet wird.“ Zudem habe man sich von der Grenze auch nicht daran hindern lassen, in den Osten zu fahren. Im Zuge des „kleinen Grenzverkehrs” ab 1973 war es für die Westbevölkerung relativ leicht, mit einem Visum Verwandte und Bekannte in der DDR zu treffen. Nicht in Mödlareuth selbst, da das Dorf in der Sperrzone lag, die sich bis fünf Kilometer ins Landesinnere zog – aber im Hinterland außerhalb der Sperrzone konnte man sich problemlos verabreden.

Sie sei immer gern rübergefahren, sagt Mergner und wirkt ein wenig melancholisch. Man habe sich viel zu erzählen gehabt, und man habe viel getrunken, insbesondere mit der Familie Richter aus Ost-Mödlareuth, mit der sie über ihre Schwiegereltern verwandt ist. Getroffen habe man sich vor allem sonntags, sofern es nicht irgendein Problem mit den Tieren gab: „Wir hatten ausgemacht: Wenn wir kommen, hänge ich ein weißes Tuch raus. Wenn nicht, ein rotes. Dann wussten die schon immer Bescheid, was los ist“, sagt Mergner.

Das steinerne Relikt wirkt wie eine hässliche, schlecht verheilte Narbe.
Dorfleben zwischen Freiheit und Willkür

Die Geschichte des geteilten Dorfes, für sie ist sie offenbar nicht verbunden mit dem, was man erwarten könnte: mit dem Leid geteilter Familien, mit auseinandergerissenen Freundschaften, zerstörten Existenzen. Die Geschichte des geteilten Dorfes – für sie ist sie zum Schmunzeln.

Robert Lebegern betont jedoch, dass die Grenzsituation von den Einwohnern natürlich unterschiedlich wahrgenommen wurde – abhängig davon, ob man nun im Osten oder Westen lebte. Die thüringischen Mödlareuther hätten schon deutlich stärker unter den Beschränkungen des Alltagslebens gelitten – und unter der Willkür.

Er erzählt, wie im Jahr 1987 ein Einwohner von Ost-Mödlareuth in den Westen reiste, weil seine Tante dort ihren siebzigsten Geburtstag feierte. Ein Jahr später durfte auch seine Frau mit, allerdings mussten die beiden ihre Kinder zurücklassen, sicher war sicher. 1989 durfte er dann wieder nur allein in den Westen – wahrscheinlich, weil seine Frau dabei beobachtet worden war, wie sie zum Jahreswechsel einen aus dem Westen über die Mauer gerufenen Neujahrsgruß freundlich erwiderte. Eine Geschichte, die auf Stasiunterlagen basiert.

Karin Mergner, die Bäuerin aus dem Westen, sagt, dass man sich trotz der Einschränkungen nach der Öffnung der Grenze überhaupt nicht fremd gewesen sei. Und der Zusammenhalt im Dorf, den es auch während der deutschen Teilung gegeben habe, sei heute noch zu spüren. Bei Veranstaltungen machten alle mit, die aus dem Osten wie die aus dem Westen.

Die Dorfbewohner verstehen sich zunächst einmal alle als Mödlareuther. Darüber hinaus dann entweder als Bayer oder Thüringer. Auf der bayerischen Seite sagt man „Grüß Gott“ und auf der thüringischen Seite „Guten Tag“. Diese Spaltung allerdings wird wohl nie überwunden werden.

Cornelius Pape

Magdalena Luise Mielke

Der Journalist Cornelius Pape und die Fotografin Magdalena Luise Mielke haben sich die ehemaligen Grenzanlagen in Mödlareuth angeschaut. Über das Leben im geteilten und wiedervereinigten Dorf sprachen sie mit einer Zeitzeugin und dem Direktor des örtlichen Museums. Sie sind überrascht gewesen, dass grenzübergreifendes Lästern so leicht möglich war.