Das Leiden der Tochter

Ihre Mutter bekam als DDR-Kanutin wohl unwissentlich Dopingmittel – mit verheerenden Auswirkungen. Mercedes Ostrowski klagt über ähnliche Symptome. Zusammen kämpfen sie für Aufarbeitung.

Text: Jann-Luca Künßberg
Fotos: Laurenz Bostedt

Die Abiturientin Mercedes Ostrowski steht fast jedem Tag um fünf Uhr morgens auf. Sie braucht viel Zeit, denn sie muss sich rasieren. Eine Stunde lang. Im Sommer, wenn die Kleidung knapper ist oder wenn sie an den Strand will, muss sie diese Prozedur wiederholen, einmal, zweimal am Tag. Sie rasiert dann ihren Rücken, ihre Brust, ihr Gesicht. Die Zwanzigjährige spricht ganz offen darüber. Sie sagt: „Vielleicht hat man mal einen Mann und möchte dann auch eine sexuelle Beziehung eingehen. Dann möchte man sich in seinem Körper wohlfühlen.“ Während sie alle behaarten Stellen aufzählt, streicht sie sich das braune Haar hinters Ohr und zeigt, wo ihr Koteletten wachsen. Sie sind rasiert, man sieht keine Stoppeln, darüber trägt sie Make-Up. 

Auch ihre Mutter Petra muss sich oft und ausgiebig rasieren. Die 54-Jährige war als junges Mädchen Kanutin in der DDR. Sie trainierte in einem brandenburgischen Vorbereitungszentrum für die Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leipzig. Schon im Alter von elf Jahren habe sie Tabletten nehmen müssen, wahrscheinlich Oral-Turinabol, erzählt Petra Ostrowski. Von Anfang an habe sie an Trainingstagen eine größere blaue und eine kleinere weiße, manchmal gelbliche Tablette bekommen, erinnert sie sich. 

Petra Ostrowski war als Kind Kanutin in der DDR.

„Blauer Blitz“, das war der Spitzname für Oral-Turinabol. Das Medikament war das wohl meistgereichte „unterstützende Mittel“ in der Geschichte des organisierten Dopings in der DDR. Ein Anabolikum, das zwar Muskeln wachsen lässt und die Sportler schneller und kräftiger macht, aber auch extreme Nebenwirkungen hat. Frauen bekommen tiefere Stimmen und Bartwuchs, Männer Prostataerkrankungen. Auch Unfruchtbarkeit und Potenzstörungen gehören dazu. Petra Ostrowski erinnert sich, wie sie sehen konnte, dass sich kurz nach der ersten Einnahme der Tabletten ihr Körper veränderte: Ihre Muskeln seien „explodiert“, ihr Kopfhaar ausgefallen, ihre Haut aufgequollen und rissig geworden. Am Bauch und auf der Brust seien ihr Haare gewachsen. Sie habe viel geweint und sei emotional instabil gewesen. Mit manchen der Nebenwirkungen kämpft sie bis heute. 

„Unterstützende Mittel“ – so lautete die präzise ausgesuchte interne Bezeichnung für Doping in der DDR: „Der Begriff (…) wurde gewählt, um ideologisch klar zum Ausdruck zu bringen, dass für die Leistungsentwicklung das Training mit all seinen Grundsätzen bestimmend ist“, heißt es im Doping-Masterplan, der am 23.10.1974 beschlossen wurde und als Vorlage in öffentlichen Stasi-Akten einsehbar ist. Der Ausdruck wird der Wahrheit allerdings nicht gerecht: Die Medikamente – den Sportlern teils ohne deren Wissen verabreicht, teils zwangsweise zugeführt – schädigten die jungen Körper, manche ruinierten sie. Das alles ist lange bekannt. Doch nun, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, setzt sich der Angriff auf die körperliche Unversehrtheit womöglich fort – in der nächsten Generation: bei den Kindern der Dopingopfer. 

Im schlimmsten Fall unfruchtbar 

Mercedes Ostrowskis Hormonhaushalt ist gestört. Bei ihr wurde ein sogenannter Hirsutismus diagnostiziert, also ein männlicher Behaarungstyp, der zumeist aus zu vielen männlichen Sexualhormonen resultiert. Sie bekommt nur unregelmäßig ihre Periode, manchmal fällt die Menstruation zwei oder drei Monate ganz aus. Das verunsichert sie. Im schlimmsten Fall bedeutet die Diagnose, dass sie unfruchtbar ist – eine Vorstellung, die sie quält, denn sie wünscht sich unbedingt Kinder. Andererseits hat sie auch Angst, sie könnte ihre Leiden wiederum an ihre eigenen Kinder weitergeben: „Wenn ich mir überlege, dass für meine Tochter nach dem Aufstehen der erste Gedanke wäre: Rasiere ich mich? Das würde ich ihr ungern antun wollen.“ Mercedes Ostrowski ist überzeugt, dass für ihre Hormonprobleme jene Dopingmittel verantwortlich sind, die ihre Mutter wohl bekam. 

„Ich habe manchmal das Gefühl, die DDR geht hier irgendwie weiter.“

Mercedes Ostrowski

In ihrem Heimatort Königs Wusterhausen erinnern die Straßennamen noch an die DDR, sie sind nach Karl Marx, Friedrich Engels und nach dem kommunistischen Schriftsteller Richard Sorge benannt. Mercedes Ostrowski wurde zehn Jahre nach der Wiedervereinigung geboren, doch sie sagt: „Ich habe manchmal das Gefühl, die DDR geht hier irgendwie weiter.“ Und fügt hinzu: „Die Opfer von einst haben keine Stimme. Man arbeitet nichts ordentlich auf, mit den Folgen lebt man ewig so weiter.“ 

Manchen ihrer Sätze hört man an, dass sie schon oft gesagt wurden. Sie klingen nicht einstudiert oder abgenutzt, aber nach aufgestauter Wut. Sie wurden wiederholt und wiederholt, bei Ärzten, in der Schule, gegenüber Journalisten. Geändert hat sich nichts. 

„Ganz wichtig ist, dass die Mauer des Schweigens gebrochen wird.“ 

„Natürlich, es gab Menschen, die wurden erpresst, die mussten mitmachen. Aber nicht jeder. Es gibt genug Mittäter.“ 

„Warum müssen die Opfer allem hinterherrennen? Das verstehe ich nicht.“ 

Entschädigungen sind nicht ewig möglich

Petra und Mercedes Ostrowski leben direkt am Wasser, das sie beide lieben. Aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung in einer ehemaligen Militäreinrichtung blickt man auf die Dahme. Auf der anderen Uferseite des Flusses verläuft die Grenze zwischen Berlin und Brandenburg. Nur ein paar Buchten weiter saß Petra Ostrowski als Kind im Kanu. Trainierte, quälte ihren Körper. Bekam die Tabletten, jeden Dienstag und Donnerstag, erinnert sie sich. 

Dokumente über die Vergangenheit.

Petra Ostrowski, die Mutter, hat eine Entschädigung nach dem zweiten Doping-Opfer-Hilfe-Gesetz (DOHG) beantragt, 10.500 Euro könnte sie als einmalige Hilfeleistung bekommen. Sie ist sich allerdings ziemlich sicher, dass ihr Antrag abgelehnt werden wird. Das DOHG ist zeitlich befristet, Nachweise können nicht ewig erbracht werden. Damit sie das Geld bekommt, müsste sie bald beweisen können, dass sie damals in dem Treptower Sportverein unwissentlich Dopingmittel verabreicht bekam. Doch wie soll sie einen solchen Beweis erbringen? Nach 42 Jahren findet sich natürlich keine Spur des Wirkstoffs Oral-Turinabol in ihrem Körper. Ihre eigene Mutter – Mercedes’ Großmutter, inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi, Deckname Sonne, wie Kopien von Stasi-Akten belegen – habe alle Urkunden und Pokale vernichtet. Weil sie bereits mit 13 Jahren den Leistungssport beendete, taucht sie auch nicht in Bestenlisten oder anderen Dokumenten über Sportereignisse von damals auf. 

Petra Ostrowski hat Verkäuferin gelernt, heute ist sie arbeitslos. Sie hat nicht viel Geld, trotzdem reist sie immer wieder zu verschiedenen Archiven, um nach Informationen über ihre Vergangenheit zu suchen. Jeder Schritt voran wäre dabei auch einer für ihre Tochter, deren Schicksal so sehr an ihrem hängt. Jede Antwort auch eine Antwort auf die Fragen von Mercedes. In dem Schrank in ihrem Arbeitszimmer sammeln sich hinter drei Flügeltüren die Aktenordner. Darin sind Gutachten zu ihrem eigenen Fall und dem ihrer Tochter abgeheftet, Anwaltspost und Briefe von der Krankenkasse. 

Ein wissenschaftlicher Nachweis ist derzeit nicht möglich 

Die 20-jährige Mercedes Ostrowski will ihre Körper- und Gesichtsbehaarung professionell entfernen lassen. 6.000 Euro soll die moderne Lichtbehandlung bei zehn Behandlungsterminen kosten – ähnlich viel wie eine konventionelle Laserbehandlung. Eine Laserbehandlung, sagt Mercedes Ostrowski, sei wegen ihrer Aknenarben aber nicht möglich, so hat es die Hautärztin attestiert. Die moderne Lichtbehandlung steht noch nicht im Leistungskatalog der Krankenkasse: die Kostenübernahme wurde abgelehnt. 

Also hat sich Mercedes Ostrowski eine Anwältin genommen und Klage eingereicht, Prozesskostenhilfe ist beantragt. „Die Krankenkasse hat mich leider nie selbst begutachtet. Ich habe denen mal ein paar Bilder geschickt“, sagt sie, „sie meinten dann, ich solle mir doch meinen Bart mal eine ganze Zeit stehen lassen. Das finde ich demütigend.“ 

„Sie meinten dann, ich solle mir doch meinen Bart mal eine ganze Zeit stehen lassen. Das finde ich demütigend.“ 

Mercedes Ostrowski

Mercedes Ostrowski weiß, dass sich wissenschaftlich derzeit nicht nachweisen lässt, dass ein mögliches Doping ihrer Mutter die Ursache für ihren übermäßigen Haarwuchs und ihre Akne ist. Genauso ist es mit den Depressionen, mit der emotionalen Belastung, wegen der sie 2011 im Krankenhaus war und noch immer behandelt wird. Auch ihre Mutter Petra Ostrowski leidet unter psychischen Problemen, 2010 wurde bei ihr eine Posttraumatische Belastungsstörung festgestellt, die laut Gutachten auch aus den Sporterlebnissen resultiert. 

So belastend die psychischen Probleme für Mutter und Tochter sind, so sehr sind sie für die beiden Frauen Grund zur Hoffnung. Denn psychische Folgeschäden können ein Weg zu Entschädigungsansprüchen sein. 

Traumatische Erlebnisse beeinflussen das Erbgut und können so an folgende Generationen weitergegeben werden. Harald Freyberger, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Professor an der Universität Greifswald, hat die These aufgestellt, dass dies auch für psychische Folgen des DDR-Dopings gelten könnte. Zusammen mit seinem Kollegen Jochen Buhrmann, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin in Schwerin, erhob Freyberger Daten zu psychischen Problemen bei gedopten DDR-Athletinnen und -Athleten. In Zusammenarbeit mit dem Doping-Opfer-Hilfe-Verein (DOH) planten die beiden Forscher auch eine Studie zu den sogenannten Opfern zweiter Generation, also den Kindern der Sportler. Doch bevor das neue Projekt beginnen konnte, starb Harald Freyberger unerwartet im Dezember 2018. Seitdem stockt die Forschung. 

Es geht um die Anerkennung als Opfer 
Eine Tagesration Einwegrasierer.

Die angekündigte Studie der beiden Mediziner zu den psychologischen Folgen des DDR-Dopings in der zweiten Generation war auf scharfe Kritik gestoßen. Ein Wissenschaftler, der den DOH mitbegründet hatte und sich inzwischen mit dem Verein zerstritten hat, zog die Wissenschaftlichkeit der Forscher Freyberger und Buhrmann in Zweifel und schrieb in einem Brief an den Sportausschuss des Bundestages von „irrlichternder Doping-Opfer-Forschung unter dem wohlwollenden Blick der Landesregierung“ Mecklenburg-Vorpommerns. Die einzigen Opfer zweiter Generation könnten Kinder sein, deren Mütter sehr jung Dopingmittel bekamen und deren Uterus in Folge dessen nicht voll ausgebildet wurde. Der Embryo hätte in diesem Fall zu wenig Platz in der zu kleinen Gebärmutter, seine Extremitäten könnten sich nicht ausdehnen und verklebten. Eine Auseinandersetzung, die der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung gedient haben mag, öffentlich aber die Arbeit mit den Opfern überschattete. Betroffenen wie Petra und Mercedes Ostrowski half sie nicht. 

Harald Freyberger schrieb auch an einem Gutachten über Petra Ostrowski. Bevor er es fertigstellen konnte, starb er. Teile des unvollendeten Gutachtens liegen Petra Ostrowski vor. Nun sucht sie nach dem Rest. 

Es ist nicht nur die Chance auf eine Entschädigung – vor allem geht es auch darum, dass beide, Mutter und Tochter, überhaupt als Opfer des DDR-Dopingsystems anerkannt werden. Dass sie noch Ansprüche geltend machen können, ist unwahrscheinlich. Das Bundesministerium des Innern hält die bestehende Rechtslage für ausreichend und sieht keinen Handlungsbedarf. Eine Studie zu den Auswirkungen von Doping auf die zweite Generation sei nicht geplant, auch nicht deren Förderung, sagt eine Sprecherin. 

Petra und Mercedes Ostrowski wollen trotzdem weiterkämpfen, wenigstens um die Übernahme der Behandlungskosten für die Lichttherapie zur Haarentfernung. Im Flur der kleinen Wohnung in Königs Wusterhausen steht eine große Box voller Einwegrasierer. Nachschub. Die Box muss immer voll sein. Sonst fühlt sich Mercedes Ostrowski nicht wohl. 

Jann-Luca Künßberg

Laurenz Bostedt

Bei der Suche nach Protagonisten hat der Doping-Opfer-Hilfe-Verein geholfen. Jann-Luca Künßberg und Laurenz Bostedt waren dann zweimal in Königs Wusterhausen, um Mercedes Ostrowski und ihre Mutter zu treffen. Die Nachforschungen lieferten neben Antworten auch immer neue Fragen. 

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