Kinder. Kühe. Konkurrenten?

Brodowin steht für den Bio-Boom: Schon in den Neunzigern entschied sich das Dorf für die ökologische Landwirtschaft. Davon profitieren die Höfe – zumindest auf den ersten Blick.

Ökodorf Brodowin-Chef Ludolf von Maltzan steht in einem Kuhstall seines Betriebs
Ökodorf Brodowin-Chef Ludolf von Maltzan inmitten seiner behornten Kühe. Rund 15.000 Liter Milch füllen Maltzans Mitarbeiter täglich ab.

Text: Alexander Wenzel
Foto: Oksana Meister

„Hier sieht man eine kleine Schramme“, sagt Ludolf von Maltzan und zeigt auf eine verletzte Stelle im Fell einer Kuh. 200 Milchkühe hat der Landwirt und alle dürfen ihre Hörner tragen. Etwas Besonderes in der modernen Landwirtschaft. Denn dadurch entwickele sich ein natürliches Herdenverhalten, erklärt von Maltzan. Selbst kleine Kühe könnten sich so durchsetzen. Die Schrammen im Fell sind für den Landwirt wie ein Beweis, dass sich seine Kühe natürlich verhalten und sich wohl fühlen. Erst die Schrammen machen ihr Leben aus.

Der 57-jährige Landwirt ist Geschäftsführer des Bio-Landwirtschaftsbetriebs Ökodorf Brodowin. Hier, im gleichnamigen Dorf in Brandenburg, rund 80 Kilometer nordöstlich von Berlin. Dass die Tiere ihre Hörner behalten, gehört zu den Richtlinien des Demeter-Bioverbands, nach denen sich der Ökodorf-Hof richtet. 1.650 Hektar bewirtschaftete von Maltzan bis vor kurzem. Nach einer Übernahme weiterer Flächen sind es jetzt über 2.500 – zweieinhalb Mal die Fläche Berlin-Kreuzbergs. Hier bauen Mitarbeiter des Hofs Gemüse, Getreide und Viehfutter an. Neben den Milchkühen gehören auch etwa 300 Milchziegen und 2.200 Hühner zum Betrieb. Insgesamt fast 3.000 Tiere – etwa sechs Mal so viele, wie Brodowin Einwohner hat.

Als größter Demeter-Betrieb Deutschlands wird der Hof, der nach der Wiedervereinigung aus einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) entstand, oft bezeichnet. Stimmt das? Das könne schon sein, sagt von Maltzan. Klar ist: Die Entwicklung des Ökodorf-Betriebs ist für ihn eine Erfolgsgeschichte – eine die zeigt, wie die Deutsche Einheit funktionieren kann. „Die Einheit wurde hier als große Chance und als Aufbruch betrachtet“, sagt der in Südafrika aufgewachsene Landwirt.

Vollbeschäftigung und sieben Vereine

Von Maltzan übernahm im Jahr 2006 den Betrieb. Aus 50 Angestellten wurden rund 150. Sie arbeiten auf dem Hof, in der Molkerei oder im Lieferservice, der Gemüsekisten zu Büros, Schulen und Privatleuten bringt. Viele der Mitarbeiter wohnen in den umliegenden Dörfern, aus Brodowin selbst kommen nur noch rund zehn Prozent, sagt von Maltzan. Vom Erfolg des Bio-Großbetriebs scheint der Ort trotzdem profitiert zu haben: Die Zahl der Einwohner ist von 400 zu Wendezeiten auf heute 450 gestiegen, unter ihnen rund 50 Kinder und Jugendliche. Es herrscht nahezu Vollbeschäftigung. In sieben Vereinen sind die Einwohner des Dorfes aktiv. Man könnte Brodowin auf den ersten Blick also als ein Musterdorf, als einen Einheitsgewinner beschreiben. Doch die Wende hat Schrammen hinterlassen. 

Davon erzählen kann Martina Bressel. Die 59-jährige Landwirtin betreibt zusammen mit ihrem Mann Uli den Demeter-Hof Schwalbennest, nicht weit von von Maltzans Hof entfernt. Sie bauen Obst und Gemüse an, halten fünf Kühe, 60 Milchschafe, 66 Lämmer und 50 Küken. Bressel kommt aus Hessen, dort hat sie ihre Demeter-Ausbildung absolviert. Ihr Blick auf die Deutsche Einheit ist trotzdem ein anderer als der vom Landwirt von Maltzan. Statt von Aufbruch spricht sie von feindlicher Übernahme: „Der Westen hat den Osten geschluckt.“ Und so würden die Einheit viele Brodowiner – und vor allem die, die in der DDR groß wurden – beschreiben, sagt sie. Dass Martina Bressel deren Sicht nachvollziehen kann, liegt an ihrem Mann Uli. Er kommt aus der Region und hat schon zu DDR-Zeiten in der LPG von Brodowin gearbeitet.

Geld aus Westdeutschland

Auch Bressels Hof wäre ohne die Wiedervereinigung nicht denkbar. Mit der Wende gelangte das Land der LPG in den Besitz der Brodowiner Bauern. Doch statt die Flächen selbst zu bewirtschaften, entschieden sie sich dafür, die Agrargenossenschaft Ökodorf Brodowin zu gründen – und auf ökologischen Landbau nach Demeter-Richtlinien umzustellen. So, ohne den Einsatz von Pestiziden, benötigte man viele Arbeitskräfte. Die Brodowiner gestalteten die Wende selbst, das Geld jedoch kam aus dem Westen: 1991 investierte ein Unternehmer-Ehepaar aus Westberlin in den Betrieb, aus der Genossenschaft wurde eine GmbH. „Die wollten sich am Aufbau Ost beteiligen“, sagt Ludolf von Maltzan heute über das Ehepaar. Für Martina Bressel hingegen ist der Einstieg eines Investors aus dem Westen ein Beispiel dafür, wie sich der Westen im Osten bereichert hat. „Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, die genossenschaftlichen Strukturen zu erhalten“, sagt sie. Von außen betrachtet ging es danach jedoch aufwärts: 1993 wurde der Hofladen eröffnet, ein Jahr später die Molkerei, danach der Lieferservice und neue Gewächshäuser.

Die Entwicklung Brodowins hat Uli Bressel direkt miterlebt: zu DDR-Zeiten in der LPG, danach als Miteigentümer des Ökodorf-Betriebs und seit über 15 Jahren im eigenen Hof.

In den Osten ging Martina Bressel erst nach der Wende. „Wir waren eine Gruppe von jungen Leuten ohne einen eigenen Betrieb, wollten aber einen Hof “, erzählt sie. Sie hörten davon, dass es im Osten viel Land gebe, weil viele Menschen wegzögen. Im brandenburgischen Seelow fand die Gruppe einen Hof und bewirtschaftete ihn. Als Martina Bressel erfuhr, dass im Ökodorf-Betrieb von Brodowin jemand benötigt wird, der sich um den Kuhstall kümmern soll, ging sie 1993 dorthin. Im Ökodorf-Hof leitete sie den Kuhstall und lernte ihren späteren Mann Uli kennen. Der gelernte Schlosser war dort für die Technik verantwortlich, kümmerte sich aber auch um den Kuhstall. „Wir sind eine Mischehe“, sagt Martina heute. Sie würde es so nicht ausdrücken, aber die deutsche Einheit haben sie im Kuhstall verwirklicht. Beide wurden Miteigentümer im Ökodorf-Hof. Als Ludolf von Maltzan den Betrieb übernahm, waren die Bressels aber schon weg. Sie stiegen aus und gründeten ihren eigenen Hof.

An einem regnerischen Märztag steht Martina Bressel im Hofladen und wiegt Karotten, Kartoffeln und Zwiebeln. Mehrere Kisten wird ihr Mann später nach Berlin fahren. Die Bressels machen mit bei einem Konzept, das sich Marktschwärmer nennt: Über eine Onlineplattform können Kunden regionale Lebensmittel bestellen und abholen.

Der Vorwurf: Fertige Antworten statt Fragen

Es kamen jedoch nicht nur Leute zum Einkaufen nach Brodowin, sondern auch um sich niederzulassen. Über 40 neue Häuser wurden seit der Wende gebaut. Viele der Zugezogenen kamen aus dem Westen. Einige wohnen nun dauerhaft in Brodowin, manche verbringen hier nur das Wochenende. Verschiedene Lebensentwürfe, unterschiedliche Biografien prallten aufeinander. Nicht alles ist gut gelaufen, sagt Bressel. „Die meisten sehen es kritisch, dass es wenig Sensibilität gab von den Leuten aus dem Westen.“ Statt Fragen zu stellen, hätten diese fertige Antworten mitgebracht. Viele im Dorf fühlen sich deshalb übergangen. Wendefrust gebe es nur noch ganz selten, sagt dagegen von Maltzan. Bei seinen Mitarbeitern spiele das Thema Wende keine große Rolle mehr. Aber von Maltzan gibt auch zu, dass seine Wahrnehmung als Chef limitiert sei. Es könne schon sein, dass das Thema hinter verschlossenen Haustüren eine größere Rolle spiele.

Festangestellte Arbeitskräfte könnten sie sich nicht leisten, sagt Martina Bressel. Nur mit der Hilfe von Auszubildenden, Jugendlichen, die ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr absolvieren und Schülern, die mithelfen, sei es möglich, den Hof zu bewirtschaften. „Wir bräuchten mehr Fläche“, ergänzt die Landwirtin. „Wir kompensieren die geringe Fläche durch viel Arbeit.“ Viel Arbeit – das heißt: sieben Tage die Woche, kein Urlaub. Sich selbstständig gemacht zu haben, bereut Bressel trotzdem nicht. Selbst entscheiden zu können, was und wie sie anbaut, das ist ihr wichtig.

Auch von Maltzans Betrieb liefert seine Produkte in Gemüsekisten an einen festen Kundenstamm aus. „Ohne die Nähe zu Berlin würde es nicht funktionieren“, sagt von Maltzan. Als echte Konkurrenz sehen sich die beiden Betriebe nicht. „Groß- und Kleinbetriebe müssen sich nicht ausschließen, sondern können sich ergänzen“, findet Martina Bressel. Nur etwas mehr Land wünscht sie sich, vor allem, weil die Kinder einmal den Betrieb übernehmen wollen. Vier von fünf können sich das heute schon vorstellen. „Mein Mann soll dieses Jahr aufhören – Uli wird 75“, sagt Bressel. Im Generationenwechsel sieht die Landwirtin eine besondere Chance. Eine, die helfen könnte, die Schrammen zu heilen: „Die Kinder sind Brodowiner. Ob Ost oder West – ich denke, für die wird das irgendwann nicht mehr wichtig sein.“

Alexander Wenzel

Oksana Meister

Alexander Wenzel fuhr mehrmals nach Brodowin und traf neben den im Text erwähnten Personen viele weitere Dorfbewohner. Eine Woche später machten sich Oksana Meister und er noch einmal auf den Weg, um sich von Ludolf von Maltzan und Uli Bressel Höfe und Tiere zeigen zu lassen.