Hinter der Holztür

Mit der Wende  kamen rund 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Sie haben die Gemeinden belebt – auch die in Halle. Nach dem Anschlag stellt sich die Frage: Muss sich jüdisches Leben zurückziehen?

Text: Lina Verschwele
Fotos: Quirin Staufer

Es ist still, als Max Privorozki die Synagoge aufschließt. Der große Mann nimmt seinen Mantel ab und setzt sich auf den Stuhl neben der Tür, direkt vor den Bildschirm. Er blickt auf zehn Meter  Straße, den Livestream der Überwachungskamera. Am 9. Oktober 2019 hat er auf diesem Bildschirm beobachtet, wie der Attentäter Stephan B. erst auf die Eingangstür und dann auf Jana L. schoss, bevor er weiterzog, um einen zweiten Menschen zu töten. Mit Stühlen und Tischen  verbarrikadierten sie drinnen die Tür. Jetzt ist die Straße leer. Nur manchmal stoppen Passanten und starren betroffen auf die Einschusslöcher. Andere stellen sich vor die Tür und machen Selfies. „Das ist hier jetzt ein bisschen wie am Brandenburger Tor“, scherzt Privorozki. Dann läuft eine Gruppe ins Bild, rote Schals leuchten. Die SPD ist da. Vornweg läuft einer der Jüngsten: Igor Matviyets. Er ist nicht nur Mitglied in der SPD, sondern auch Teil der Jüdischen Gemeinde. Matviyets und Privorozki begrüßen sich, so herzlich, wie es eben geht, wenn Corona sich ankündigt.

„Die meisten Menschen in Deutschland“, glaubt Igor Matviyets, „sehen Juden nur auf Gedenkveranstaltungen.“ Auch deswegen hat er die Ortsverbandssitzung in der Synagoge organisiert.

Die Bänke knarren, als 20 Genossen nach und nach darauf Platz nehmen. Max Privorozki stellt sich vor die Gruppe. Er schaut in Gesichter voller guter Absichten. Doch manche der Fragen, die nun an  ihn gerichtet werden, klingen eher wie Vorwürfe: Einer will wissen, ob in der Gemeinde mittlerweile Deutsch gesprochen wird. Max Privorozki lächelt höflich und fragt zurück: „Wenn Sie in Frankreich leben würden, gut Französisch sprächen, aber bei Treffen unter sich wären. In welcher Sprache würden Sie sich unterhalten?“ Auf Deutsch, murmeln manche im Hintergrund. „Sehen Sie, so ist es bei uns auch.“ Nur sprechen sie eben nicht Deutsch, sondern Russisch.

Igor Matviyets besucht mit seinen SPD-Genossen die Synagoge. Als Jude will er Brücken schlagen zwischen seiner Gemeinde und der Politik.

Max Privorozki und Igor Matviyets, 56 und 28 Jahre alt, kamen beide nach der Wende aus der Ukraine nach Deutschland. Möglich machte das ein Beschluss, der noch aus DDR-Zeiten stammte: Im April 1990 verkündete Sabine Bergmann-Pohl, damals Präsidentin der Volkskammer: „Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren.“ Neun Monate danach bestätigten die wiedervereinigten Bundesländer den Neustart. Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sollten als „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Bis 2004 konnten sie einreisen, als wären sie Flüchtlinge. Die BRD übernahm damit die Idee der DDR, nachzuholen, was bis dahin verpasst worden war: eine Versöhnung mit den Juden aus Osteuropa. Diejenigen, die am schlimmsten unter dem Holocaust gelitten hatten, sollten ihren festen Platz im wiedervereinigten Land erhalten. Das war der hehre Anspruch. Was ist daraus geworden?

Aufbruch in das zweite Leben

Vier Tage vor dem Treffen mit der SPD: Ein Drache stampft und faucht im Flur der Jüdischen Gemeinde. Er hebt seine Klauen und dreht sich einmal im Kreis, ein paar Männer weichen aus. Gleich daneben hat sich der Teufel aufgebaut. Dann, fast unbemerkt, mischt sich ein persischer Schah unter die Menge. Max Privorozki trägt eine lila-goldene Mütze, dazu eine Stoffjacke, die typisch für ihn ist. Er tritt an einen Tisch und spricht mit Micky Maus, die Papiermasken und Glitzer sortiert. Es ist der Sonntag vor Purim – jüdischer Karneval im Gemeindehaus.

Die Studentin, die als Micky Maus verkleidet ist, erklärt, worum es beim Purimfest geht: Vor 2.500 Jahren soll ein Minister des persischen Königs versucht haben, alle Juden in Persien töten zu lassen. Doch Königin Esther, eine Jüdin, konnte das verhindern. „Deswegen feiern wir heute, dass sie uns Juden nicht ermordet haben.“ Später werden die Kinder die Geschichte nachspielen.

Dass im Gemeindehaus von Halle wieder mit vielen Menschen gefeiert wird, liegt auch am Vorsitzenden Max Privorozki. Seit 1999 hat er die Gemeinde wiederbelebt. Ohne die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gäbe es in vielen deutschen Städten überhaupt keine jüdischen Gemeinden mehr, sagen Wissenschaftler. Sie und ihre Kinder machen 90 Prozent aller Mitglieder aus, in Halle sind es sogar mehr.

Seit über 20 Jahren ist Max Privorozki Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle.

Bevor er nach Halle zieht, lebt Max Privorozki in Kiew. In seinem ersten Leben ist er Mathematiker. Im sowjetischen Pass steht: Nationalität – еврей, Jude. Für den jungen Max Privorozki bedeutet das vor allem eines: nicht an jeder Fakultät studieren, nicht überall arbeiten zu dürfen. Das alles ist aber nicht der Grund, warum Privorozki die Sowjetunion verlässt. „Ich war antisowjetisch eingestellt“, sagt er. Nach Deutschland zieht er, weil er einen Ort sucht, an dem man frei seine Meinung sagen kann.

Erst in seinem zweiten Leben wird Max Privorozki religiös. Der Start in Deutschland ist schwer. Anfangs lebt er in einem Heim in Helbra. Ganz in der Nähe wächst später auch der Attentäter Stephan B. auf. Weil Privorozki damals wenig Deutsch spricht, findet er in seinem Beruf keine Arbeit, versucht sich als Autohändler und Apfelpflücker. Seinen ersten festen Job in Deutschland bekommt er 1999: als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle. Die hat damals nur rund 100 Mitglieder, aber Hunderttausende Mark Schulden. Unter Privorozki zahlt sie die Schulden zurück, baut die Jugendarbeit aus. Inzwischen organisiert die Gemeinde seit fast 20 Jahren Jugendfahrten nach Bulgarien. Alte Fotos zeigen Max Privorozki am Flughafen, stolz in Hemd und Krawatte.

Heute zählt die Gemeinde 530 Mitglieder, Privorozki nennt sie „sein drittes Kind“, neben seinen  zwei Töchtern. Für viele Menschen ist die Gemeinde zu einem Refugium geworden. Trotzdem wäre es 2014 fast zerbrochen: Als Russland die Krim annektierte, spaltete das auch die Gemeinde in Halle. Nach Handgreiflichkeiten zwischen Putin-Verstehern und -Gegnern habe er das Thema zum Tabu erklärt, sagt Privorozki. Danach war Ruhe. Abstand von der Politik ist ihm wichtig – anders als Igor Matviyets.

Während die Gemeinde weiter Purim feiert, sitzt Max Privorozki an seinem Schreibtisch, die Brille auf die Stirn geschoben. Am Computer listet er für die Polizei die Veranstaltungen der nächsten Wochen auf: Rot für solche mit hohem Risiko, Gelb für mittel, Weiß für niedrig. Nach dem Anschlag hat die Polizei den Schutz der Gemeinde verstärkt, vorher gab es praktisch keinen. Ihre erste Überwachungskamera zahlte die Gemeinde selbst. Auf 16 Seiten hat das LKA für die Gemeinde analysiert, wie die Gemeinde jetzt sicherer werden kann. „Aber irgendwer muss diese Burg auch bauen“, sagt Privorozki. Er fürchtet, dass er die Bürokratie dazu nicht bewältigen kann. Seit Monaten berät er sich mit dem Land, auch über die Tür zur Synagoge, doch die ist noch immer die alte.

Max Privorozki will Sicherheit für seine Gemeinde, das fordern auch die Mitglieder. Was er vor allem bekam, waren Besuche: von Frank-Walter Steinmeier und Franziska Giffey, Heiko Maas und Mike Pompeo. Plötzlich wollten Leute die Gottesdienste anschauen – viele Gläubige fühlten sich dabei wie im Zoo, sagt Privorozki.

Max Privorozki hat die Sowjetunion erlebt, Arbeitslosigkeit in Deutschland, Krisen und Erfolge in der Gemeinde. All das hat Journalisten kaum interessiert. Doch seit Oktober will die Presse  Interviews. Halle – einen Monat danach, zwei Monate, drei Monate. Zu Pessach, einem der wichtigsten Feiertage, werden es sechs Monate sein: „Aber da gebe ich keine Interviews“, sagt Max Privorozki.

Er denkt nicht, dass die neue Sichtbarkeit der Gemeinde hilft. Im Gegenteil. „Zu viel Interesse auf der einen Seite führt nur zu Hass und Gewalt auf der Gegenseite.“ Privorozki glaubt, dass es umso besser ist, je mehr sich die Gemeinde zurückziehen kann. „Wir müssen für uns selbst stehen, allein stark sein.“

Ganz anders sieht das Igor Matviyets. Kurz nach dem Anschlag hat der SPD-Politiker eine Kippa aufgesetzt und ist damit durch Halle gelaufen. Gut 20 Journalisten fragten ihn deswegen nach Interviews, erzählt er. Im Alltag trägt er sonst keine Kippa. Matviyets ist nicht sehr religiös, „eher praktisch orientiert“. Doch ohne seinen Schritt, fürchtet er, wäre nach dem Anschlag in Halle überhaupt niemand mit Kippa auf der Straße zu sehen gewesen, und das kam ihm falsch vor.

„Es gibt kein offenes jüdisches Leben in Halle. Trotzdem wurde es angegriffen.“ Matviyets glaubt: Sicherheit kommt auch mit Sichtbarkeit.

Twittern und Kämpfen

Als er 1999 von Mykolajiw nach Saarbrücken zieht, ist er sieben Jahre alt. Über Deutschland weiß  er, dass dieses Land einst Juden ermorden ließ. Nun sei das aber ganz anders, erzählen ihm die Eltern. In Deutschland, hoffen sie, wird ihr Kind mehr Perspektiven haben als in der Ukraine. Die ersten Monate lebt die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft und von Sozialhilfe, dann finden die Eltern Arbeit.

Von den ersten Freunden, die Igor in Deutschland findet, haben fast alle einen Migrationshintergrund, viele sind Muslime. Matviyets‘ Schulzeit fällt in die Jahre, in denen der NSU in Deutschland Muslime umbringt. Die Enttarnung der Terrorgruppe wird für Matviyets ein Grund, sich politisch zu engagieren. Je stärker sich Minderheiten vernetzen, desto besser.

Am Tag nach dem Treffen der SPD öffnet er die Tür zu seinem Lieblingscafé: Drinnen plätschert ein Zimmerbrunnen, an der Wand hängt ein Küstendorf aus Tapete. Im vergangenen Jahr hat er den Besitzern geholfen, dieses Café zu eröffnen. Die Familie stammt aus Syrien. Neben dem Studium begleitete Matviyets Migranten bei Behördengängen. Er kennt sich da aus. Schon in der Grundschulzeit dolmetschte er für seine Eltern, wenn die einen Termin beim Amt hatten.

Vor einigen Tagen ist Matviyets auf einer Demo mit goldenen Rettungsdecken durch Halle  gezogen. In einer Rede auf dem Marktplatz forderte er, dass die Bundesregierung mehr für Geflüchtete aus Syrien tun soll. Matviyets geht auf viele Demos. Er postet bis zu 20 Tweets am Tag. 2021 will er für die SPD in den Landtag ziehen. Auf seiner Website schreibt er, warum er all das tut: Nie wieder soll es eine Mehrheit geben, die sein Leben als wertlos erachtet.

Ende  2019 machte Matviyets öffentlich, dass der CDU-Politiker Robert Möritz Mitglied bei Uniter war. Ein rechter Verein, den mittlerweile der Verfassungsschutz überprüft. „Mir ist wichtig, zu zeigen, dass ein Jude sich wehrt. Dass ein Jude gegen rechts kämpft.“

Max Privorozki wollte nie ein Kämpfer sein müssen. „Ich bin kein Held“, sagt er ohne Bedauern. „Ich kämpfe nicht, ich gehe lieber weg.“

Seit einigen Jahren fühlt Privorozki sich unwohl in Deutschland. Früher war er mit seiner Frau oft noch spät um elf spazieren, jetzt bleiben sie abends lieber zuhause. Der Wendepunkt kam 2014: als Menschen begannen, auf Montagsdemos rechte Parolen zu skandieren. Nicht nur in Halle, auch auf Facebook und im Bundestag werde der Ton immer schriller. „Die Leute haben vergessen, wie man sich friedlich austauscht – egal zu welchem Thema.“ Ständig beschimpfe man sich gleich als  Kommunist oder Nazi. Auch seinen Lieblingsautoren hat das schon getroffen: Henryk M. Broder. In seinem Büro führt Privorozki eine kleine Bibliothek der streitbaren Schriften. Broder, jüdisch und rechtskonservativ, steht dort gleich neben Boris Reitschuster. Beide schreiben für den Blog Die Achse des Guten. Auch ein Buch von Thilo Sarrazin findet sich im Regal, versteckt in der zweiten Reihe.

Selbst in der jüdischen Gemeinde gibt es Sympathien für Gedankengut am rechten Rand des politischen Spektrums, auch für die AfD. Privorozki findet diese Partei untragbar. Trotzdem hätte er die AfD einmal fast gewählt, gibt er zu. Er fürchtet, dass die AfD bei einer geheimen Umfrage in seiner Gemeinde sogar gewinnen könnte. Die Partei, deren heutiger Ehrenvorsitzender Alexander Gauland sagte, die Nazizeit sei ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Wie kann das sein?

Max Privorozki erklärt das so: Auch in Deutschland schauten viele Gemeindemitglieder noch immer russisches Staatsfernsehen. Der Tenor dort: Muslime würden Deutschland überrennen, aber die AfD könne das Land retten. Das ist die eine Seite.

Die andere ist komplizierter. Ihm selbst werde übel, wenn er dieses Fernsehen schaue – aber auch Privorozki sagt: „Ich habe nicht direkt Angst vor Migranten. Ich habe Angst vor Menschen ohne Toleranz. Man muss das Maximale tun, damit diese Leute verstehen: Hier läuft etwas anders als dort.“ Dass auch Juden die AfD wählen, liege an den Fehlern der anderen Parteien. Die Regierung sei zwar aktiv gegen rechten Antisemitismus – gegen den von links oder von Muslimen tue sie aber zu wenig. Und er hat noch eine Erklärung: Bis heute werden jüdischen Kontingentflüchtlingen ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht für die Rente in Deutschland angerechnet, so landen viele in der Altersarmut.

Die Gemeinden schrumpfen

Auch das fördere natürlich die Kritik an diesem Staat, der sie doch einst eingeladen hat zu kommen. Viel mehr ist dem Vorsitzenden an öffentlichen Aussagen nicht zu entlocken. Er hat Politik zur Privatsache erklärt, mitmachen will er nicht. Als das Bündnis Halle gegen Rechts sich wünschte, dass die gesamte Gemeinde beitritt, war Privorozki dagegen. Der Grund: Es gibt kein Halle gegen Links. In der Sowjetunion waren die Dissidenten Sacharow und Scharanski Privorozkis Helden, weil sie für Meinungsfreiheit kämpften. Demonstrieren will er deshalb aber nicht. Im Gegenteil, er kann es nicht leiden: „Man geht auf den Marktplatz, man ist laut, man ist aggressiv.“ Vielleicht erinnern sie ihn auch an die Sowjetunion: Dort war Antifaschismus immer verordnet.

Was ist daraus geworden – aus dem Anspruch von 1990, Jüdinnen und Juden einen festen Platz in der deutschen Gesellschaft zu geben? Fragt man Igor Matviyets und Max Privorozki, schweigen beide erst mal.

Max Privorozki sagt schließlich: „Mit dem Beschluss der DDR begann die neue Geschichte der  Jüdischen Gemeinde. Alles andere ist schwer zu sagen.“

Igor Matviyets sieht es so: „Der Gemeinde in Halle geht es besser als 1990.“ Aber er glaubt auch, dass viele Hallenser überhaupt erst durch den Anschlag auf die Gemeinde aufmerksam wurden. „Das zeigt, dass es keine so große Verankerung gibt.“

Eines allerdings ist nach dem Anschlag gewiss: Sicher ist der Platz, den Juden in Deutschland haben, nicht. Sie fühlen sich nicht nur bedroht, sie sind es. Und sie werden weniger. 2004 ist die Frist zur Einwanderung ausgelaufen, seitdem schrumpfen die Gemeinden in Deutschland. Auch in Halle: 2005 hatte die Gemeinde 750 Mitglieder, heute sind es nur noch 530. Viele sind verstorben, manche weggezogen.

Lina Verschwele

Quirin Staufer

Für ihre Geschichte recherchierten Lina Verschwele und Quirin Staufer in Berlin, Halle und Helbra. Beeindruckt hat sie, dass die jüdische Gemeinde nach dem Anschlag mehr als 500 Zuschriften bekam – die Max Privorozki alle persönlich beantworten will.