Mr. Eastside

Man nennt ihn nur den Mauerkünstler. Seit der gebürtige Iraner Kani Alavi in Berlin lebt, lässt ihn die alte Grenze nicht mehr los.

Kani alavi

Text: Negin Behkam
Foto: Vera Bode

Seine Hände sind überall mit Farbe befleckt, genauso wie seine schwarze Kleidung: überall grüne, weiße und rote Spuren. Mit roter Pastellkreide wirft er ein paar vage Linien auf eine Pappe, mit der Hand verreibt er sie. Dann sucht er zwischen den Pastellkreidestiften, die er auf dem Malertisch um sich herum ausgebreitet hat, nach einer anderen Farbe. 

Ein Atelier am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg. Ein denkmalgeschütztes Gebäude, zweiter Stock. Hier arbeitet Kani Alavi an einem neuen Werk. Kani Alavi, mittlerweile 65 Jahre alt, ist der Miterfinder der Berliner Mauer in ihrer jetzigen Form, der Mauer als Kunstgalerie.

Er gehört zu den 118 Künstlern und Künstlerinnen, die Reste der Berliner Mauer bemalten, als sie gerade gefallen war. Daraus entstand die East Side Gallery, die größte Freiluftgalerie der Welt. Alavi kämpfte über viele Jahre erst für die Entstehung, dann für die Erhaltung und Sanierung der East Side Gallery, die heute täglich von mehreren tausend Menschen besucht wird. 

Der Künstler Kani Alavi
bevorzugt Pastellkreide.
Denn damit sind die
Übergänge leichter zu
erreichen als mit Ölfarbe. 
Oft beginnt er erst
spät abends zu malen.
Er ist ein Nachtmensch.
Der Künstler Kani Alavi beginnt oft erst spät abends zu malen. Er ist ein Nachtmensch.

Irgendwann wurde die Mauer Teil von Alavis künstlerischer Identität. Viele Leute kennen den Namen Kani Alavi nicht, aber wenn man sagt „der Mauerkünstler“, dann wissen sie, dass er gemeint ist. „Dich muss man nach dem Tod in der Mauer begraben, sagen meine Freunde immer“, erzählt Alavi. Wieso ist ihm diese verdammte Mauer überhaupt so wichtig? 

Das Radio spielt Tschaikowski. Von den Wänden ist wenig zu sehen, alles ist mit Gemälden vollgehangen. Die meisten zeigen Berlin: die Mauer, das Brandenburger Tor, die Oberbaumbrücke, Menschenmassen. Alavis Hand huscht über die Pappe, seine Ärmel sind hochgeschoben, er malt zwei rote Blumen nebeneinander. Die Pastellkreide hält er links, mit dem rechten Unterarm stützt er sich auf dem Tisch ab. Kani Alavi malt mit links, aber wenn er schreibt, sagt er, benutzt er die rechte Hand. Dazu hat ihn sein Lehrer in der Grundschule im Iran gezwungen. Aber wenn man ihn genauer fragt, wechselt er das Thema. 

Inspirierende Betonsegmente 

1980 kam Alavi nach Westberlin, da war er 25 Jahre alt. Er erinnert sich noch: Bei dichtem Schneefall konnte das Flugzeug nicht sofort landen. Während es Warteschleifen drehte, studierte Alavi von oben die Berliner Mauer, die damals nicht nur zwei Staaten, sondern zwei Welten voneinander trennte. Natürlich konnte er sich in diesem Moment nicht vorstellen, was für eine gewaltige Rolle diese aneinandergereihten Betonsegmente in seinem Leben spielen würden. 

Alavi ist in Lahidschan geboren und aufgewachsen, einer Stadt im Nordwesten des Iran. Als junger Maler ist er oft den Berg Sheitan Kuh im Osten der Stadt hinaufgestiegen. Sheitan Kuh heißt Teufelsberg, was rückblickend betrachtet lustig ist, weil ja auch Berlin einen Teufelsberg hat. Alavi also saß auf dem iranischen Teufelsberg und skizzierte die Stadt, die unter ihm lag, die Teeplantagen und das Kaspische Meer. Bald hatte er ein Atelier in Lahidschan. Um ein wenig Geld zu verdienen, malte er Familienporträts. Kleine Auftragsarbeiten. Doch etwas fehlte ihm. 

1979 erlebte Iran eine Revolution. Die Schah-Zeit war zu Ende, am 1. April 1979 wurde die Islamische Republik Iran ausgerufen. Nach der Revolution sah Alavi keine Perspektive mehr für seine Arbeit. Er brauchte Freiheit, wie seine Kunst. Lahidschan konnte ihn nicht mehr inspirieren. 

Mauer als Symbol der Verbundenheit 

Während Alavi in seinem Berliner Atelier von seinen Anfängen im Iran erzählt, sollte er eigentlich gerade an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea stehen und mit etwa 120 Künstlern und Künstlerinnen aus der gesamten Welt malen. Am 12. März hätte er im Flugzeug nach Südkorea sitzen sollen. Er plante dort den Start eines Mauer-Kunstprojektes – eine Art zweite East Side Gallery. Als ein Symbol der Freiheit, der Verbundenheit. Die ganze Aktion sollte zwei Wochen dauern. Dann kam die weltweite Corona-Pandemie. Wann kann er sein Traumprojekt, an dem er jahrelang gearbeitet hat, endlich verwirklichen? Niemand weiß das. 

In der Zeit vor dem Mauerfall hatte der Künstler sein Wohnatelier in Westberlin, gleich am Checkpoint Charlie – direkt am ehemaligen Kontrollpunkt, von dem aus CIA und Stasi das Geschehen an der Grenze beobachteten. Heute ist die Gegend rund um den Checkpoint gefragt, ein Magnetpunkt für Touristen, doch in den 80er-Jahren wollte hier kaum jemand wohnen. Alavi studierte an der Universität der Künste freie Malerei und hatte wenig Geld. Damals war die Gegend um den Checkpoint Charlie günstig – also genau das Richtige für ihn. 

Am Abend des 9. November 1989 kam er von der Uni in sein Wohnatelier zurück. Um Mitternacht wurde im Radio gemeldet, dass die Mauer gefallen war. ‚Das soll ein Witz sein‘, dachte er und schaute aus dem Fenster: Auf der Straße war die Hölle los. Er blickte auf eine Menschenmasse, die sich von Osten in Richtung Westen bewegte. Es geschah im November heißt sein bekanntestes Werk, das Alavi später in Erinnerung an diese Nacht gemalt hat. Es zeigt die Euphorie, Freude und Angst der Menschen. Dieser Berliner Schicksalstag und die Ereignisse, die folgten, beeindruckten ihn so sehr, dass seine Werke fortan um kaum etwas anderes kreisten. Selbst die Iranische Revolution verblasste hinter dem Eindruck des 9. November. 

Kani Alavi arbeitet in seinem Atelier in Berlin-Kreuzberg. Hier sammelt er seine Werke der letzten 40 Jahren.

Alavi wird immer noch aufgeregt und euphorisch, er gestikuliert lebhaft, und seine Augen beginnen zu leuchten, wenn er über den Mauerfall spricht. Er kann gar nicht aufhören zu reden: über die Mauer und über seinen Kampf für den Erhalt der Mauergalerie. In den 90er-Jahren und im Jahr 2013 drohte die East Side Gallery abgerissen zu werden. Das löste im Jahr 2013 heftige Proteste aus. Vier Teile an der East Side Gallery sind trotzdem entfernt worden, der größte Teil ist aber erhalten geblieben. Alavi, ein Künstler aus dem 4.600 Kilometer entfernten Lahidschan, spielte eine große Rolle bei der Rettung der deutschen Erinnerungskultur. 

„Die Blumen kann ich malen, seitdem die Berliner Mauer gefallen ist.“ Alavi grinst. Um sich inspirieren zu lassen, konnte er wieder in die Natur gehen, in die richtige Natur, nicht nur in einen der Westberliner Parks, sondern weiter raus, nach Brandenburg. Alavi greift ein Stück Stoff und wischt sich die Farbe von den Händen. Seine Blumen sind nun fertig: rote Blütenblätter, schwarze Staubblätter, im Hintergrund ein wenig Gelb. 

Negin Behkam

Vera Bode

Die Journalistin Negin Behkam kennt Kani Alavi aus einem einfachen Grund: Nicht nur wegen der East Side Gallery, sondern weil sie beide eine Migrationsgeschichte haben und aus dem Iran stammen. Sie und die Fotografin Vera Bode waren mit dem Künstler in seinem Atelier, an der East Side Gallery und vor Alavis ehemaligen Wohnatelier am Checkpoint Charlie.