Die Seele der Einheit

Tausende haben seit der Wende die Gegend um Suhl in Thüringen verlassen. Markus Heckert ist Seelsorger – er kümmert sich um jene, die geblieben sind.

Pfarrer und Seelsorger Markus Heckert mit Hund Sally in seinem Büro in Hinternah bei Suhl.

Text: Lucia Heisterkamp
Fotos: Max Zimmermann

Wenn wir in unserer Seele graben, fördern wir etwas zutage, das dort unbemerkt gelegen hätte. Der Schriftsteller Leo Tolstoi hat das gesagt, und Markus Heckert hat es ausprobiert. Er hat in den Seelen hunderter Menschen gegraben; in den Seelen von Alten, Einsamen, Verlierern der Wiedervereinigung. Das Zuhören kann helfen, die Seele des Anderen zu entlasten. Aber manche Wunden, sagt der evangelische Pfarrer Heckert, seien auch nach 30 Jahren noch nicht verheilt.

An einem Tag im März dieses Jahres steigt der Pfarrer im Thüringer Dorf Hinternah in seinen Dacia-Kleinwagen. Er fährt den Hügel hinauf ins Nachbardorf, wo eine 70-Jährige verstorben ist, Anita Kolk. Hinter den Bergen liegt Suhl, die größte Stadt in Südthüringen. Keine andere Region hat seit der Wende so viele Menschen verloren. Über ein Drittel der Bevölkerung ist nach 1991 fortgezogen. In dem knapp 1.400-Seelendorf Hinternah, in dem Heckert lebt, hat sich der Rückgang etwas langsamer bemerkbar gemacht. Aber auch hier wird der Pfarrer viel öfter für Beerdigungen als für Taufen gebraucht. Im vergangenen Jahr hat er 16 Menschen zur letzten Ruhe begleitet, nur sechs Kinder mit Wasser beträufelt.

Vor dem Haus steht die Nichte der Verstorbenen, drinnen warten der Sohn und der Ehemann. „Mein Beileid“, murmelt Heckert. Wie gewöhnlich bei solchen Terminen trägt er seine Alltagskleidung, eine graue Hose, ein blaues Hemd. Er ist 53 Jahre alt, ein Mann mit hellen freundlichen Augen und kurzem, grauen Haar.

Geister der Vergangenheit

Der Pfarrer stellt seinen Gehstock an die Wand, setzt sich an den Wohnzimmertisch und packt sein Ringbuch aus. In drei Tagen wird er auf dem Friedhof stehen und die Trauerrede halten, er wird sagen, dass Anita Kolk ein fleißiger Mensch gewesen sei, eine bescheidene Arbeiterin, die von ihrer Familie bis zuletzt umsorgt worden sei.

„Erzählen Sie mir einfach mal von Ihrer Frau“, bittet der Pfarrer den Witwer.
„Nächstes Jahr wäre goldene Hochzeit gewesen“, sagt Gerald Kolk, 70 Jahre alt.
Die Nichte hat das Haus betreten, sie weint. Der Sohn legt eine Todesanzeige auf den Tisch, die er aus der Lokalzeitung ausgeschnitten hat.
„Vor einem Jahr ging das mit dem Krebs los“, erzählt der Witwer Kolk. „In den letzten zwei Wochen war ich jeden Tag bei ihr.“ Der Pfarrer kritzelt etwas aufs Papier – Stichworte, die ihn später daran erinnern sollen, was die Familie über die Tote erzählt hat. Manchmal nickt er und sagt: „Ja, das ist schwer.“

„Gab es Menschen, die ihr nahe standen?“, fragt der Pfarrer.
„Sie war sehr beliebt im Dorf.”
„Irgendwelche Auszeichnungen?“
Kolk schüttelt den Kopf. „Höchstens aus der DDR.” Er lacht kurz. „Nein, um Gottes Willen.”
„Wo hat sie gearbeitet?“
„Am Anfang in einer Holzfabrik. Später in einer Netzfabrik.”

Beim Hausbesuch macht Pfarrer Heckert sich Notizen, um später nicht zu vergessen, was über die Tote gesagt wurde.

Haarnetze und Einkaufsnetze wurden dort hergestellt, erzählt der Witwer. „Bis sie 65 war, danach hat sie noch Heimarbeit gemacht.” Die Firma habe die Wende überstanden und wurde von einem westdeutschen Investor gekauft. Kolk verlor seine Stelle, er ist freiwillig gegangen, als massenhaft Leute entlassen wurden. Am Ende hat auch er in der Netzfabrik angefangen.

„So viele Betriebe sind zugrunde gegangen“, sagt die Nichte. Kolk nickt betrübt. „Niemand wollte mehr Ostprodukte kaufen. Das hat die Firmen kaputt gemacht. Und die Treuhand, das waren die Schlimmsten.”
„Wir haben das Beste aus der Situation gemacht”, sagt die Nichte. „Wir hatten nicht viel Geld, aber wir hatten Arbeit.”
Inzwischen ist es nicht mehr die Verstorbene, über die am Tisch gesprochen wird. Als wären die Geister der Vergangenheit stärker als der Moment der Trauer.

„Man kann nicht sagen, dass alles schlecht war in der DDR”, sagt Kolk.

„Heute ist auch nicht alles gut“, brummt der Sohn. „Und wenn du was Falsches wählst, bist du ein Nazi.“

Im Dorf, sagt Heckert auf der Rückfahrt zum Pfarrhaus, leben Wendeverlierer und Wendegewinner dicht zusammen. Viele sind beides zugleich. Es gibt ehemalige Stasimitarbeiter und jene, die von der Stasi verhört wurden. Solche, die sich vom Westen hintergangen fühlen, die heute politikverdrossen sind oder AfD wählen. Wenn man sich mit Angehörigen trifft, um eine Trauerfeier vorzubereiten, dann muss man manche Fragen ganz behutsam stellen, meint der Pfarrer. „Damit man keine alten Wunden aufreißt.”

Der Nostalgie auf der Spur

Fünf- bis sechsmal in der Woche fährt Heckert mit dem Auto über die Bergdörfer. Seine Gemeinden schrumpfen, wie fast überall im Osten, und zum Sonntagsgottesdienst in Hinternah kommen an guten Tagen zehn Besucher. Zehn von 670 Kirchenmitgliedern im Dorf. Aber mit dem Pfarrer reden wollen alle, auch wenn sie nicht an Gott glauben.
Im Auto fährt er an der Netzfabrik vorbei, in der die Kolks gearbeitet haben. Ein grauer Betonklotz, ein Schild mit pinkfarbenen Lettern verrät den Namen des Betriebs: Solida. Heckert kennt ein paar solcher Erfolgsgeschichten aus der Region, von Unternehmen, die die Wende überstanden haben. Die meisten aber, sagt er, wurden platt gemacht. Großbetriebe mit 2.000 Leuten, alle auf einen Schlag entlassen. Diese Demütigung, meint Heckert, sitze bei den Leuten sehr tief. „Zu erleben, dass die Firma, in der man jahrelang geschuftet hat, plötzlich nur noch Schrott war… Das haben manche bis heute nicht verkraftet.”

Die Menschen erzählen ihm immer wieder davon: wenn er sie zu Hause besucht, wenn er im Garten seine Tomaten gießt, wenn er mit seinem zotteligen Yorkshire-Terrier Sally durchs Dorf spaziert. Wie sehr sie dem alten Betrieb nachtrauern, ihrem ganzen Stolz. Dass sie sich wertlos fühlen, weil sie schon so lang arbeitslos sind. Dass sie einsam sind, weil die Kinder längst im Westen leben. Heckert sagt dann nicht: „Das wird schon wieder.“ Er will die Sorgen ernst nehmen. Er glaubt den Menschen, wenn sie ihm berichten, dass sie sich nach der DDR zurücksehnten. Obwohl er selbst das Regime hasste. Aber er versucht, die Nostalgie zu verstehen.

Im Pfarrhaus, wo Heckert mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn lebt, zieht er einen dicken Ordner aus dem Regal. Er hat einen Teil seiner Stasiakten darin aufbewahrt. Über 8.000 Seiten hat die Überwachungsbehörde damals über ihn angelegt. Heckerts Vater, ein westdeutscher Pfarrer, zog 1964 in die DDR, um dort zu heiraten. Er hatte sich in Westberlin in eine ostdeutsche Frau verliebt, in den Jahren vor dem Mauerbau. Die Frau ging später zurück in die DDR, um dort ihren kranken Vater zu pflegen. Peter Heckert folgte ihr, aber die SED-Führung hielt ihn für einen Nato-Agenten und überwachte die Familie fortan rund um die Uhr. In der Schule wurde Markus Heckert, der Sohn, von Mitschülern bespitzelt, im Unterricht verhört.

Die Mitbringsel aus der DDR, die heute in seinem Büro stehen, sind keine lieb gewonnenen Souvenirs: ein Schild von der ehemaligen DDR-Grenze, zwei Löffel, die mal der Stasi gehörten. Es sind Heckerts Erinnerungen an seinen Widerstand gegen das System. Als junger Mann protestierte er in den Achtzigern in Jena gegen die Mauer und gegen die Unterdrückung durch die Sozialistische Einheitspartei. Er verteilte Flugblätter, marschierte in den ersten Reihe bei Demonstrationen mit. Das Grenzschild erinnert ihn an diese Zeit. Kurz nach dem Mauerfall besetzte Heckert mit Freunden ein Gebäude der Stasi, um zu verhindern, dass dort Akten vernichtet werden, und steckte als Andenken Silberlöffel aus der Kantine ein.

Das ehemalige Grenzschild erinnert Markus Heckert an seinen Widerstand gegen das DDR-Regime.

Heckert sagt, die DDR habe ihn krank gemacht. Weil er nach dem Abitur nicht zur Nationalen Volksarmee wollte, habe er als Bausoldat „Dienst ohne Waffe“ leisten müssen. Man habe ihn in ein früheres Giftgasdepot der Wehrmacht geschickt, um dort Bodenproben zu entnehmen. Beim Erzählen tupft sich Heckert mit einem Taschentuch den Schweiß von den Augenrändern. Inzwischen leidet er an einer Nervenkrankheit. Die Beine werden mit Prothesen gestützt, gegen die Schmerzen nimmt er Opium. Er glaubt, dass die Krankheit eine Langzeitfolge des Giftgases sei. Heckert ist sich sicher, dass er an dieser Krankheit sterben werde.

Seine Familie macht sich deshalb große Sorgen um ihn. Seine Frau schimpft, wenn er wieder von einem Termin zum nächsten hetzt und sich nicht genügend Ruhe gönnt. Seine zwei älteren Söhne, die in Jena studieren, rufen regelmäßig an, um zu hören wie es um die Gesundheit ihres Vaters steht. Seine Tochter lebt nicht weit entfernt in Hinternah, sie schaut so oft es geht im Pfarrhaus vorbei.

Manchmal sorgen sich auch die Menschen um ihn, die Heckert besucht, um sie zu trösten. „Ach, der Pfarrer“, seufzt der alte Christoph Amarell, der nur ein paar Fußminuten vom Pfarrhaus entfernt wohnt. Er empfängt Heckert in seinem Wohnzimmer. Im Sessel sitzt seine Frau Inge, in eine rosa Strickjacke gewickelt, 84 Jahre alt, Pflegestufe 2. Seit ihrem Sturz kann Frau Amarell sich nur noch mit einem Rollator bewegen. Christoph Amarell kauft für seine Frau ein und besorgt ihr Tabletten. Zum Glück kümmert der sich so gut, sagt Heckert, denn die nächste Apotheke ist nur mit dem Auto zu erreichen. Menschen wie den Amarells macht die Überalterung der Region sehr zu schaffen. Weil viele der Jungen fort sind und viele der Alten sterben, verschwinden immer mehr Geschäfte. Es lohnt sich für sie nicht mehr. Zwei von drei Gaststätten im Dorf haben in den letzten Jahren aufgegeben.

Christoph Amarell, 84 Jahre, vor seinem Haus in Hinternah.

„Das ist schlimm”, sagt Amarell, der sich trotzdem nie vorstellen konnte fortzuziehen. Er wurde im Dorf geboren, erinnert sich noch an die Bomber, die als Kind am Himmel kreisten: Ssss, ssss. Seiner Familie gehörte ein Stück Land, das sie abgeben musste, kurz nachdem die Sowjets im Juli 1945 kamen. Amarell findet: „Die Wende hätte viel früher kommen müssen.“ Das, was aus der Einheit wurde, hat sich Herr Amarell dennoch anders vorgestellt. „Plötzlich kamen alle Chefs aus dem Westen. Nur die Arbeiter, die kamen von hier.”

Von Euphorie zu Enttäuschung

Die Meinung der Leute zur Einheit, sagt Heckert später, sei gespalten. Einerseits wollten viele Menschen aus dem Osten unbedingt das Ende der DDR. Andererseits hätten sie das Gefühl, vom Westen betrogen worden zu sein. Weil viele von ihnen nicht von der Wende profitiert hätten. „Wir haben erlebt, dass eine friedliche Revolution erfolgreich ist“, sagt Heckert. Doch bei vielen sei die Euphorie in Enttäuschung umgeschlagen.

Heckert setzt sich ins Auto und fährt nach Suhl. Draußen zieht der Thüringer Wald vorbei und Heckert deutet in die Ferne: da eine Glasfabrik, dort ein Gewürzhersteller. Einige Unternehmen haben sich in der Region neu angesiedelt. Die Versicherungsfirma HUK-Coburg, knapp eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt, hat in den letzten Jahren Tausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Ganz zart beginnt die Landschaft zu blühen. Das Problem, sagt Heckert, sei jetzt eher der Fachkräftemangel, die jungen Leute fehlen. Es ziehen aber auch wieder Familien her, bauen Häuser, weil das Land viel billiger ist als in der Stadt. Vielleicht geht der Exodus bald zu Ende.

Das kleine Dorf Hinternah liegt etwa 20 Minuten mit dem Auto von Suhl entfernt.

Bei der Tafel in Suhl, neben einer riesigen Plattenbauwüste, stößt der Pfarrer auf Detlef Muselmann. Der 58-Jährige hat sich eine Schürze umgebunden, im Keller hilft er den Bedürftigen, Bananen und Kartoffeln in Plastiktüten zu packen. Ein bisschen was nimmt er für sich selbst mit, weil seine Sozialhilfe nicht zum Leben reiche, erzählt er.

Muselmann sagt: „Mir macht das Freude, für andere da zu sein.“

Der Pfarrer sagt: „Ohne Leute wie dich könnte die Tafel hier dicht machen.“

Muselmann trägt ein Kettchen mit zwei Silberhämmern um den Hals, ihm fehlen ein paar Zähne. Er sagt, dass er sich die DDR zurückwünsche. Als die Industrie in Suhl noch florierte, arbeitete er in einem Elektrowerk. Nach der Wende folgten Weiterbildungsmaßnahmen und 1-Euro-Jobs bei Zeitarbeitsfirmen. Eine feste Stelle hat er bis heute nicht gefunden. „Ich hab immer geschuftet”, sagt er. „Und was hab ich davon? Nichts.”

„Und trotzdem machst du hier noch was freiwillig“, sagt der Pfarrer.

Muselmann zuckt mit den Schultern. „Daheim rumsitzen kann ich nicht.”

Dreimal musste er umziehen, weil die Stadt das Gebäude, in dem er wohnte, abreißen wollte. „Aber mir geht’s ja gut”, sagt Muselmann. „Ich komm ja über die Runden.“

„Das”, sagt Heckert, „ist ne‘ Wahnsinnsaussage. Im Westen reden ja viele von den Jammerossis. Und hier ist jemand, der sagt: Mir geht’s gut, weil er für andere da ist.“

„Der Staat war schlecht, aber nicht die Menschen“.

Durch Menschen wie Muselmann hat der Pfarrer besser begriffen, warum die DDR-Nostalgie noch immer so verbreitet ist. „Es war ja nicht alles schlecht damals. Der Staat war schlecht, aber nicht die Menschen.“ Er hält für einen Moment inne. „Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass andere Ostdeutsche die Wende als Demütigung verstanden haben.”

Zurück im Pfarrhaus lässt sich Heckert in seinen Bürosessel fallen. Gehen ihm die Sorgen der Menschen zu nah? Er denkt kurz nach und sagt: „Es gibt Momente, da muss ich allein sein.“ Dann pflegt er seine Pflanzen im Garten oder geht mit seinem Hund im Wald spazieren. Nur manchmal, wenn seine Schmerzen in den Beinen zu stark werden, zieht er die Rollos runter und rollt sich in seinem Sessel zusammen. „Ich sage dann: Morgen rette ich euch wieder, aber lasst mich heute in Ruhe.” Der einzige, der dann bei ihm sein darf, ist Sally, sein Hund. 

Lucia Heisterkamp

Max Zimmermann

Einblicke in intime Sorgen: Erst nach zahlreichen Anfragen erklärte sich ein Seelsorger in Thüringen bereit, die Journalistin Lucia Heisterkamp und den Fotografen Max Zimmermann zu seinen Terminen mitzunehmen. Inspiriert zu der Idee hatte sie das Buch eines Magdeburger Krankenhauspfarrers: Was noch erzählt werden muss.