Totgeglaubte kämpfen länger

Die FDJ überlebte die DDR. Statt zwei Millionen Mitglieder sind es heute ein paar Dutzend. Sie kommen hauptsächlich aus den alten Bundesländern. In Zwickau suchen sie neue Anhänger, die mit für den Sozialismus kämpfen.

Text: Marie-Thérèse Harasim
Fotos: Lena Laine

Eine alte Frau steht in Zwickau an der Bahnhofsstraße und weint. Langsam laufen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Ihre Taschen und Beutel berühren fast den Boden, so sehr lässt sie die Schultern hängen. Fassungslos verfolgt die Frau das Treiben auf der Straße: Eine Schar von etwa 40 Menschen hat sich zu einem Demonstrationszug versammelt. Sie laufen einem Mann hinterher, der eine Björn-Höcke-Maske trägt. Sie soll den rechtsextremen Politiker verächtlich machen. Doch dieser Höcke ist nicht das, was die Passantin schockiert. Es ist auch nicht der Trabi, der auf dem Anhänger eines Busses liegt. Es sind die blauen Jacken und wehenden Fahnen der jungen Menschen: FDJ steht dort, darunter das Sonnensymbol. FDJ, die Freie Deutsche Jugend, das war die Jugendorganisation der DDR. „Das da ist doch schrecklich“, sagt die Frau, die in der DDR gelebt hat.

Dieses Logo hatte die FDJ schon zu DDR-Zeiten. Während die Mitglieder nach dem Mauerfall ein neues aussuchten, hat die Organisation inzwischen wieder das alte Design.

1936 gründete sich die FDJ im Pariser Exil, sie kämpfte gegen Faschismus und Krieg. In der DDR wuchs die FDJ zum Jugendverband heran, der einzigen staatlich erlaubten Jugendorganisation, mit bis zu 2,3 Millionen Mitgliedern. Zwar war die Mitgliedschaft in der FDJ zu DDR-Zeiten freiwillig, aber wer nicht eintrat, durfte kein Abitur ablegen und wurde oft nicht zum Studium zugelassen. Im schlimmsten Fall drohte die Einweisung in eine staatliche Umerziehungsanstalt. Die FDJ diente als Kaderschmiede der SED, hier hatten Heranwachsende die Staatsideologie zu verinnerlichen.
„Was ist uns’re Antwort auf Krieg und Faschismus“, ruft die 19-jährige Frieda in das Megafon, das sie in der rechten Hand hält. „Revolution und Sozialismus“, antworten alle im Chor. Neben dem Zug der Jugendlichen laufen FDJ-Aktivisten, die Passanten ansprechen und Flugblätter verteilen. Viele Zettel landen zerknüllt auf der Straße.

„Die gibt’s noch?“, ist die Frage, die die FDJ-Leute an diesem Märzwochenende besonders oft hören. Verblüfft bleiben auch zwei Männer auf dem Platz vor dem Zwickauer Rathaus stehen, an dem die Truppe gerade vorbeigezogen ist, Protestchöre singend, von Akkordeon und Schalmeien begleitet. „Die kommen hier um die Ecke, ich weiß nicht, was ich denken soll“, sagt einer der beiden. „Ach, das ist wirklich die FDJ?“ fragt der andere.

Wer uns tot glaubte, dem sei gesagt, dass wir leben

In der Bundesrepublik wurden die FDJ und ihre Symbole im Jahr 1951 verboten, weil sie als verfassungswidrig galten. Doch nach der Wiedervereinigung blieb die östliche FDJ erlaubt. Anders als viele Verbände der DDR löste sie sich nicht auf. Stattdessen wurde auf einer Konferenz im Januar 1990 trotz der dramatisch sinkenden Mitgliederzahlen beschlossen, einfach weiterzumachen.

„Wer uns tot glaubte, dem sei gesagt, dass wir leben“ schreibt die FDJ heute auf ihrer Homepage. Anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der Deutschen Einheit hat sie am ersten Märzwochenende ihre Kampagne in Zwickau begonnen. Das Motto: 30 Jahre sind genug – Revolution und Sozialismus.

Für den Kampagnenzug, der nach vielen Stationen in ostdeutschen Städten am 3. Oktober in Berlin ankommen soll, habe sich die FDJ für Zwickau als Ausgangspunkt entschieden, sagt Kattrin Kammrad. Die Medizinisch-technische Assistentin aus Bremen ist eine der Leiterinnen des Kampagnenbüros der FDJ.

Das ganze Land in Arbeiterhand
Die 19-jährige Frieda ruft zur Revolution auf. Ohne diese gehe der Systemwandel nicht.

In Zwickau steht eine Fabrik von Volkswagen. Was das Unternehmen bundesweit als Vorzeigewerk propagiert, ist für die FDJ lediglich ein Symbol der Unterdrückung.

Auf dem Flugblatt, das an diesem Wochenende verteilt wird, ist den Arbeitern des „geraubten VEB Sachsenring“ – also dem Volkseigenen Betrieb Sachsenring, wie das VW-Werk in der DDR hieß – viel Platz gewidmet. Früher wurde im Werk der Trabi gefertigt. Eine der Forderungen, die die FDJ während der zwei Tage in Zwickau immer wieder ruft und die hier besonders begeistern soll: „Das ganze Land in Arbeiterhand!“ Denn bei der Kampagne gehe es auch darum, im Osten des Landes um Anhänger zu werben, erklärt Kattrin Kammrad. Wie viele Mitglieder die FDJ aktuell zählt, dazu will sich Kammrad nicht äußern. Es seien genug, um reichlich Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Die 19-jährige Frieda mit dem Megafon, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ist eines der neusten Mitglieder. Wenn sie die Losungen ruft, dann liest sie oft von einem kleinen Zettel ab. An einem Freitag Ende November letzten Jahres sei sie in der bayerischen Stadt, in der sie wohnt, zum ersten Mal auf einer Demonstration von Fridays for Future gewesen, als ein FDJ-Aktivist sie ansprach. Noch am Nachmittag sei sie zu einem Treffen der FDJ-Ortsgruppe gegangen. „Die konnten mir viel erklären und ich habe einige Fragen gestellt“, sagt Frieda. Inzwischen trägt auch sie eine strahlend blaue Jacke mit dem FDJ-Logo auf dem rechten Oberarm. Mit gelbem Garn hat sie es angenäht. Die Genossen – so nennen sich die Mitglieder der FDJ und ihre Unterstützer gegenseitig – bezeichnet sie pauschal als ihre Freunde. „Es ist cool, ein gemeinsames Ziel zu haben, eine gemeinsame Vorstellung von der Welt, wie sie sein kann“, sagt sie. Sie kämpfe für eine bessere Welt, in der Arbeiter nicht mehr ausgebeutet würden. In ihrer Freizeit liest sie Marx und Lenin.

Die Schönheit der Plattenbauten

Am Morgen hat Frieda ihre erste Rede gehalten. Die FDJ-Anhänger sind durch einen Zwickauer Randbezirk gezogen. Anders als in der Innenstadt reihen sich hier viele Plattenbauten aneinander. „Hier ist es schön“, meint Selim Ramay so unbekümmert, als wandere er vor einer traumhaften Bergkulisse durch die Alpen. „Hier wohnen die Arbeiter.“ Ramay ist einer der Fahnenträger. Immer wieder lässt er sich von seinen Begleitern eine Zigarette drehen – mit einer Hand geht das schlecht. Auf ihrem Weg durch die Siedlung klingeln die FDJ-Leute an Haustüren und bieten Gespräche an. Wenige Anwohner gehen darauf ein, die meisten betrachten das Treiben auf der Straße von ihren Balkonen aus. Nur eine Frau winkt euphorisch mit einer roten Fahne von einem Balkon in der ersten Etage, als wolle sie so die sozialistischen Gedanken der Demonstranten unterstützen. Die FDJ-Aktivisten klatschen. Frieda läuft im Gleichschritt neben dem blauen Lastwagen mit Münchener Kennzeichen, der ganz hinten im Zug fährt. Am Ende einer Straße kommt der Wagen zum Stehen. Der Fahrer reicht ihr ein schwarzes Mikrofon durch das geöffnete Fenster. „Schön langsam reden“, rät ihr ein Genosse. Friedas Kinn zittert. In der linken Hand hält sie einen Zettel. Mit einem Bleistift hat sie darauf ihre Rede notiert, erst kurz vor dem Schlafengehen in der Nacht zuvor. Damit sie es besser lesen kann, jeden Buchstaben mit Kugelschreiber nachgezogen, die Schlüsselbegriffe mit gelbem Textmarker markiert.

Manche FDJ-Aktivisten haben sich für ihre Demonstration verkleidet: Eine Frau trägt die Uniform der Bundeswehr, ein Mann im Bananenkostüm das Gesicht von Höcke. So soll das aktuelle System kritisiert werden.

Es fiept über die Lautsprecher, die auf dem Wagen montiert sind. „30 Jahre sind genug! Ihr seht doch, was in den letzten 30 Jahren in diesem Land geschehen ist“, so fängt sie an. Knapp zwei Minuten dauert ihre Rede. Kein Wort verliert sie über die Mauer, kein Wort über die Grenzsoldaten, die auf fliehende Menschen schossen, kein Wort über all die Stasi-Spitzel im vermeintlich besseren Deutschland. Am Ende läuft Frieda zurück zur Gruppe. Sie versucht, sich einzureihen und bleibt dann doch am Rand stehen. Sekunden später kommt ein Genosse auf sie zu und legt Frieda, die um einiges größer ist als er, die Hand auf die Schulter. „Geile Rede, Frieda!“, sagt er. „Ja, volle Kanone“, meint ein anderer.

Das Märchen von der Annexion der DDR

Um das Land in den Sozialismus zu führen, brauche es eine Revolution. Nach Friedas Verständnis soll jedoch niemand ermordet werden: Notfalls genüge auch Exil oder Haft, für Kapitalisten und Faschisten. Nicht alle Genossen sehen das so. Et- was abseits des Zuges unterhalten sich zwei von ihnen über den richtigen Kampf, den die FDJ statt der aktuellen Kriege führen wolle. Das sowjetische Lied Der Heilige Krieg ist eines von vielen, die immer wieder über die Lautsprecher hallen.

Zur Abschlusskundgebung des Zuges in Zwickau schwenken Sympathisanten eine Fahne der DDR. Die FDJ-Mitglieder behaupten: Sie seien keine Nostalgikergruppe.

Am Samstagnachmittag folgt der Höhepunkt der Kampagne. Ein großer Park in Zwickau. Die sogenannten Genossen haben sich vor dem Ehrendenkmal nebeneinander aufgereiht. In der Mitte steht Frieda vor einer Treppe, die auf das Denkmal führt. Das Monument erinnert an die Opfer des Naziregimes. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion sei die Ausbeutung der Arbeiter auch im Westen des Landes schlimmer geworden, sagt Frieda. Solange es die DDR gab, habe sich der Westen attraktiv halten müssen. „Sonst sagen doch die Arbeiter im Westen, wir kriegen im Osten besseren Lohn, wir werden da nicht ausgebeutet, da geh ich doch in den Osten.“ Von den vielen Menschen, die vor dem Mauerbau im Jahr 1961 in den Westen flohen, wisse sie nichts – genauso wenig wie von politisch Verfolgten, die in den Knast gesteckt wurden. Zwar habe sie schon mal etwas von Mauertoten gehört – so genau kenne sie sich da aber auch nicht aus.

Die FDJ fordert Sozialismus. Dass nach 30 Jahren wieder die blauen Fahnen durch Zwickau getragen werden, hat viele Einwohner überrascht.

Glaubt man der FDJ, dann gab es die Wiedervereinigung nicht. „Da wurde nichts vereinigt, die DDR wurde einverleibt“, sagt die Kampagnenchefin Kattrin Kammrad. Stattdessen reden sie und ihre Genossen von einer Annexion der DDR durch die Bundesrepublik: Die Gesetze seien der Bevölkerung der DDR übergestülpt worden, obwohl die DDR-Bewohner angeblich weiterhin in einem anderen Land hätten leben wollen. Die Volkseigenen Betriebe seien von der Treuhand verschachert worden. Das Ergebnis sei ein Großdeutsches Reich, gegen das die FDJ kämpfe. Ein Weltbild, konstruiert aus einfachen Antworten.

Auch Frieda ist davon überzeugt, dass die Montagsdemonstranten in der DDR für die Öffnung der Grenzen und nicht für die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen seien. „Die Menschen in der DDR haben nicht verstanden, warum da eine Grenze war, warum da eine Mauer war – die meisten wollten die DDR“, behauptet sie, ohne dafür einen Beleg zu haben. Frieda aus Bayern hat nur im Geschichtsunterricht von der DDR gehört. Sie weiß nicht viel über diesen Staat, von dem sie vorgibt, sogar die Motive seiner Bewohner durchschaut zu haben.

Jetzt seid ihr dran

Eineinhalb Tage lang haben Frieda und ihre Genossen vor Zwickauer Schulen, bei VW und in Randbezirken Zwickaus um Mitdemonstranten geworben, oft ohne Erfolg. Nur eine Handvoll Gleichgesinnter hat sich ihnen angeschlossen. Im Wind wehen inzwischen auch eine DDR-Fahne und eine selbstgemalte Flagge, die mit dem gelben Hammer und der gelben Sichel auf rotem Untergrund an die Fahne der Sowjetunion erinnert. Frieda erzählt von einer Lehrerin, die mit ihren Kollegen in der Pause heimlich unter der Treppe geraucht habe. Beim Anblick der blauen Jacken habe sie den Gruß der FDJ „Freundschaft!“ gerufen. Als Frieda ihr ein Flugblatt geben wollte, habe sie jedoch abgelehnt.
Frieda selbst hätte kein Problem gehabt, in der DDR zu leben. Das behauptet sie jedenfalls heute, 30 Jahre später. „Ich würde versuchen, diesen Sozialismus zu verbessern: ihn gut zu machen und nicht so unterdrückerisch und diktatorisch.“ Von den Menschen, die das System verändern wollten und denen daraufhin die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, auch von ihnen, sagt Frieda, wisse sie nichts.

Die 19-jährige Frieda ruft zur Revolution auf. Ohne diese gehe der Systemwandel nicht.

„Unter dem Deckmantel des Antifaschismus machen sie nichts anderes als die Rechten, sie nennen es bloß anders!“, hat eine Frau am Vortag den Demonstranten hinterher gerufen. Sie selbst sei 26 Jahre alt gewesen, als die Mauer fiel, erzählte diese Frau. Bis dahin habe sie Tag für Tag erlebt, was DDR bedeutete – Unfreiheit. Von den Aktivisten wurde ihr vorgeworfen, nicht für eine bessere FDJ gekämpft zu haben. Statt mit ihr zu reden, spielten die Schalmeien lauter, um ihre Vorwürfe zu übertönen.

Am Rande des Zuges steht ein Münchener Genosse mit einer älteren Frau aus Sachsen zusammen, die dem Aufruf der FDJ gefolgt ist. Sie organisiert antifaschistische Stadtführungen durch Zwickau. Ihre weißen Haare gucken unter einer grauen Baskenmütze hervor. In der Hand hält sie eine Tüte, kramt darin und zieht eine weitere Tüte hervor. Darin hat sie ihre alten FDJ-Hemden verstaut. Sie habe sie aufgehoben, um sie der FDJ gemeinsam mit alten Abzeichen und einem FDJ-Statut zu überreichen. „Jetzt seid ihr dran“, sagt die Aktivistin.

Frieda habe viel gelernt, sagt sie nach zwei Tagen. Sie steht auf dem Platz vor dem Rathaus in Zwickau, der Zug ist an seinem Endpunkt angekommen. Zwei Aktivistinnen klettern über eine Leiter auf den Balkon des Rathauses und hissen eine FDJ-Fahne. Sie bekommen dafür eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Dann folgt die Abschlusskundgebung. Danach unterhalten sich die Genossen, darunter auch Kinder, die ihre Eltern davon überzeugt haben, sie in der Schule krank zu melden, damit sie hier dabei sein können. Was sie sagen, geht in der Geräuschkulisse unter.

Frieda fährt heute noch nach Hause. Beim nächsten Kampagnentag in Rostock werde sie auf jeden Fall wieder dabei sein. Sie sagt: „Ich kenne diese Solidarität aus meinem eigenen Leben nicht. Es gibt hier etwas, wofür wir alle kämpfen.“

Marie-Thérèse Harasim

Lena Laine

„Die gibt’s noch?“, dachte Marie-Thérèse Harasim, als sie zufällig die FDJ im Netz fand. Sie mailte, rief an. Keine Rückmeldung. Also ging sie hin. Kein Erfolg. Zurück im Internet schrieb sie allen Facebookgruppen mit FDJ im Namen. Irgendwann rief Kathrin Kammrad sie an. Zwei Tage waren Marie-Thérèse Harasim und Fotografin Lena Laine mit ihr in Zwickau unterwegs.

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