Eine Auferstehung

Selmsdorf ist eine Ausnahme: Während sonst Kirchen um Mitglieder kämpfen, wächst hier die Glaubensgemeinschaft. Wie ist das gelungen?

Text: Marisa Gierlinger
Fotos: Maria Leverenz

„Alle Kinder auf die Äpfelchen!“, ruft Christiane Woest, die Vorsitzende des Kirchengemeinderates, in das Stimmengewirr der Menschen, die in dem alten Backsteinhaus im mecklenburgischen Selmsdorf zusammengekommen sind. Ein Gebetsraum ist hier eingerichtet, etwa 20 Stühle stehen darin. Auf dem Boden liegen ebenso viele Sitzkissen in Apfelform. An dem provisorischen Altarschränkchen hängt die Flagge von Simbabwe, dem Gastgeberland des Weltgebetstages. Durch den Gottesdienst führen die Frauen der Kirchengemeinde. Lieder werden von einer CD abgespielt. Ein Tablett mit Paprikaspalten und Oliven macht die Runde. Einige Kinder sitzen auf dem Boden und schneiden zu den Liedtexten Grimassen.

Dass Selmsdorf seit fünf Jahren wieder eine eigene Pfarrstelle hat, ist etwas Besonderes. In der  ganzen Gegend ringsherum ging die Anzahl an Pastoren zurück, viele kleine Kirchengemeinden wurden nach der Wiedervereinigung miteinander verschmolzen. In Selmsdorf war alles anders: Die evangelische Kirchengemeinde wuchs und wuchs. Inzwischen sind aus den knapp 200 Mitgliedern, aus denen die Gemeinde kurz nach der Wende bestand, 700 geworden. Das Pfarrhaus, das zu DDR-Zeiten an Privatleute verkauft worden war, erwarb die Kirche vor zwei Jahren zurück. Mit einem  Mal benötigte man mehr Platz. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil man in Ostdeutschland noch immer spürt, dass die DDR für Religion wenig übrig hatte. Die Zahl der Gläubigen ist noch heute gering, mehr als 80 Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind konfessionslos.

Ein Wachturm an der B105 Richtung Dassow erinnert noch an die Zeit, als die benachbarten Gemeinden im DDR-Sperrgebiet lagen.

Selmsdorf, das Ausnahmedorf, liegt dicht neben der ehemaligen Grenze im früheren DDR-Sperrgebiet. Lübeck ist nicht weit entfernt. Wenn man von dort aus die frühere Grenze in Richtung  Mecklenburg überquert, endet die Besiedlung jäh. Das meiste Land der ehemaligen Schutzzone ist nach wie vor unbebaut. Doch dann zeigt sich Selmsdorf, ein Ort mit kaum mehr als 3.000 Bewohnern. Rund um den Ortskern sind in den letzten Jahren immer mehr Gewerbe- und  Wohngebiete entstanden. Seit 1990 hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Die Gemeinde hat Bauland billig verkauft und mit der Nähe zur Hansestadt Lübeck geworben, wo man viel leichter einen Job findet als auf dem Land. Das lockte die Neuen nach Selmsdorf, viele davon aus dem Westen. Mit ihnen ist auch der Glaube ins Dorf gezogen.

Neue Werte und alte Wunden

Ein Sonntag im März, die Bagger in Selmsdorf stehen still. In der Ernst-Thälmann-Straße, die durch  den historischen Ortskern führt, ist zwischen zwei alten Häusern ein aufgegrabenes Grundstück eingezäunt. Es riecht nach frischer Erde und Sägespänen. Nur wenige Schritte von hier thront fast verloren die Dorfkirche auf einer Wiese, das Tor ist abgesperrt. „Die krieg ich in der Zeit nicht geheizt“, sagt Torsten Woest, der 57-jährige Diakon der Gemeinde. Vom ersten Januar bis zum Karfreitag werden die Gottesdienste im Pfarrhaus gefeiert.

Nach dem Gottesdienst kommt Bewegung in die Küche, Stühle werden aus dem Gebetsraum in den Essbereich getragen. Auf den Tischen im Wohnzimmer liegen Servietten, Blumentöpfe mit gelben Primeln stehen darauf. Die Frauen packen gemeinsam an, schenken Getränke ein und teilen  Geschirr aus. Die Kirchengemeinde ist jung, und fast alle ihrer Mitglieder sind Zugezogene. Eine der Frauen  hier ist allerdings in Selmsdorf aufgewachsen, getauft wurde sie erst später. „Erzählt wurde uns damals nie was über Gott und so. Das wurde alles totgeschwiegen“, erinnert sie sich. Als so viele Menschen aus Schleswig-Holstein herzogen, habe sich einiges verändert. Der dörfliche  Charakter habe sich gewandelt. Wo früher jeder jeden kannte, leben nun Menschen unterschiedlicher Herkunft. Es ist der Wunsch nach Gemeinschaft, der viele von ihnen in die Kirche treibt. Kaum einer der Aktiven in der Kirchengemeinde ist über 50. Mit den Alteingesessenen im Dorf, so sagen sie es, habe man nicht viel zu tun.

Im gesamten Gemeindegebiet stehen die Zeichen auf Aufbruch. Auch den alten Ortskern sollen Glasfaserkabel mit Breitband-Netz versorgen.

Das Verhältnis der Menschen zur Kirche ist in Selmsdorf nach wie vor nicht so einfach, wie man  denken könnte, wenn man bloß die Zahlen sieht. Christiane Woest, die 45-jährige Frau des Diakons,  ist Mitglied der Gemeindevertretung. Eine Mittlerin zwischen politischer und kirchlicher Gemeinde, aber auch zwischen dem jungen Dorf und dem alten. Mit ihrer Familie ist sie erst im Jahr 2006  hierher gezogen. In Mecklenburg zu bleiben war ihr wichtig – sie selbst ist im 100 Kilometer  entfernten Dorf Klein Grenz aufgewachsen. In Rostock hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Als Historikerin hatte sie der Bürgermeister gebeten, eine Ortschronik zu schreiben. Nach fast zehn Jahren entstand 2017 der erste  Teil der Arbeit. Gut die Hälfte  der 384 Seiten befasst sich mit der  DDR-Vergangenheit. Das Heimatbuch erzählt von der Besatzungszeit, vom Ausrufen des Sperrgebiets und den vielen Zwangsaussiedlungen, teils um den Schutzstreifen an der Grenze freizuhalten, teils aus scheinbarer Willkür. Christiane Woest führte Gespräche mit Zeitzeugen, be- suchte  mit ihrem Diktiergerät und ihrem Notizbuch an die 40 Menschen zu Hause. Sie schrieb viel auf, aber sie wertete die Erzählungen der Einheimischen nicht. Die Historikerin meint: „Wenn sie das so sagen, dann hinterfrage ich das nicht. Dann ist es ihre Geschichtsschreibung. Es ist ganz wichtig, die Menschen reden zu lassen.“ Und um ihre eigene Position nicht zu verschweigen, fügt sie hinzu: „Die DDR war ein Unrechtsstaat.“ 

Noch heute gibt es Vorbehalte, über die Vergangenheit des Orts zu sprechen. In Selmsdorf waren  bewaffnete DDR-Grenztruppen stationiert, die unter maßgeblichem Einfluss der Stasi standen. Einige Offiziere haben hier geheiratet und sind geblieben. Manche von ihnen werden der Historikerin später sagen, sie seien unabsichtlich in etwas hineingerutscht, oder sie hätten nur kurze Zeit für die Stasi gearbeitet. Oft wissen alte Nachbarn aber, wer informeller Mitarbeiter der Stasi war. Nicht alle Zeitzeugen, über die Christiane Woest schreibt, nennt sie namentlich – um den Frieden im Dorf zu wahren, wie sie sagt. Nach Erscheinen des ersten Buches hätten viele sich ihr gegenüber geöffnet, weil sie erkannt hätten, dass Christiane Woest keine Schwarz-Weiß-Bilder verbreite. „Das brauchte Zeit und Vertrauen“, sagt sie. Dass sie als Frau des Diakons so etwas wie eine öffentliche Instanz in Selmsdorf ist, helfe ihr.

Vergeben, ohne zu vergessen

An einem Vormittag ist Ingrid Dietrich zu Besuch im Pfarrhaus. Sie und Christiane Woest sitzen sich gegenüber, ein wenig Bananenbrot ist vom Gottesdienst noch übrig geblieben. In der DDR arbeitete die 80-Jährige als Postbeamtin. Sie sagt: „Wir hier im Sperrgebiet waren ja gut behütet. Man musste keine Türen zuschließen. Ich wusste in jedem Haus, wo das Geld liegt, das ich mir für die Zustellung der Post nehmen konnte.“

„Das Zeitzeugengespräch ist nicht nur eine historische, sondern auch eine seelsorgerische Aufgabe“, sagt die Ortschronistin Christiane Woest (links), hier mit der ehemaligen Postbotin Ingrid Dietrich.

Wer allerdings in die Kirche ging, hatte mit Schikanen zu kämpfen. Konfirmanden wurde damit gedroht, kein Abitur machen zu können. Bei angekündigten Veranstaltungen der Kirche wurden   zur selben Zeit verpflichtende Veranstaltungen von Partei-Organisationen angesetzt, etwa Pioniernachmittage für Kinder. Die wenigen bekennenden Gläubigen, zu denen Ingrid Dietrich und ihre Familie zählten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft. „Wir haben alle zusammengehalten“, erinnert sie sich. „Wir hatten ein kleines Bad, Fliesen gab‘s keine. Ich bin dann im Dorf rumgelaufen, ob jemand Fliesen für mich hat. Und jeder hatte eine, oder zwei. Ich hatte dann ein wunderschönes, buntes Badezimmer.“ Gute Freunde im Ort habe sie heute noch, im Glauben seien sie aber nicht vereint. Zur Kirche hätten die meisten auch nach der Wiedervereinigung nicht mehr gefunden. Nur an den großen Feiertagen sei es in der  Kirche immer  voll. Das ärgert Ingrid  Dietrich, weil sie darin die Doppelmoral sieht – vor allem bei denjenigen, die sich mit der Stasi eingelassen hatten.

„Wenn  wir das  Evangelium ernst  nehmen, können wir als Kirche da die Tür nicht zumachen“, sagt  Torsten Woest. Der Diakon trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgedruckten VW-Bulli, die langen Haare hat er nach hinten gebunden. Er spricht von den Zöllnern in der Bibel, denen Jesus verziehen habe – eine Parabel auf den Grenzort und die dunklen Lebensläufe einiger seiner  Bewohner. Die Kirche spiele für viele erst mit zunehmendem Alter eine Rolle. „Ich hab auch einen  ehemaligen Major hier im Ort beerdigt, weil dem das wichtig war“, sagt Woest, „der war sein ganzes Leben nicht in der Kirche, und nachdem er gestorben ist, ist die Schwiegertochter zu mir ge- kommen.“ Wer kirchlich beerdigt werden wolle, dem gestehe er das zu. Aus seelsorgerischer Verantwortung, wie er sagt. Seine private Meinung sei da nicht gefragt.

Diakon Torsten Woest in der Selmsdorfer St.-Marien-Kirche. Dieses Jahr bleibt das Gotteshaus an Ostern geschlossen.

Für Woest war der Glaube auch zu DDR-Zeiten ein Anker. Er sagt: „Wenn ich nicht in der Kirche gelandet wäre, hätte ich einen Ausreiseantrag gestellt.“ Vorbilder wie in Leipzig, Rostock oder  Schwerin, wo die Kirche im Ringen um die Wiedervereinigung viel bewegte, hätten ihn geprägt. In Güstrow, wo er aufwuchs, war er 1976 einer von drei Konfirmanden in seinem Jahrgang. Heute  betreut er 13 Hauptkonfirmanden und rund 20 Taufen im Jahr. Der Sozialismus habe die Kirche nicht klein gekriegt. „Irgendwie hat sie sich immer durchgesetzt“, stimmt Ingrid Dietrich zu. „Die Kirche war vielleicht kein leuchtendes Licht, aber eine flackernde, kleine Flamme.“

Marisa Gierlinger

Maria Leverenz

Die Suche nach der deutschen Einheit führte die Österreicherin Marisa Gierlinger ausgerechnet ins ehemalige Sperrgebiet. Maria Leverenz trat die Reise nach Selmsdorf eine Woche später an – um ihre Eindrücke in Bilder zu fassen und mit der Zeitzeugin Ingrid Dietrich Spiegelei zu essen.

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